Spurensuche Franz Josef Strauß: Militärische Ambitionen beim deutschen Einstieg in die Atomenergie

Spurensuche Franz Josef Strauß: Militärische Ambitionen beim deutschen Einstieg in die Atomenergie

Gern wird von interessierter Seite betont, dass der deutsche Einstieg in die Atomenergie niemals militärische Ambitionen hatte. Dabei war nach schwierigen Verhandlungen Deutschland lediglich verpflichtet, auf eigenem Boden keine Nuklearwaffen zu entwickeln oder zu besitzen. Schon dies ein Hinweis, dass es irgendwie deutsche Ambitionen gegeben haben muss. Das öffnete die Tür für weitere Möglichkeiten. Z.B. für solche, die Franz Josef Strauß, erster Atom- und danach Verteidigungsminister der Bundesrepublik, in seinen Ende der 1980er Jahre veröffentlichten „Erinnerungen“ zum besten gibt. Demnach hat es bereits Ende 1957 und Anfang 1958 ausgehandelte Geheimverträge auf Vorschlag Frankreichs mit der Bundesrepublik und außerdem italienischer Beteiligung zum Bau einer „Isotopenanlage in Pierrelatte“ gegeben, in der es eindeutig um die Atombombe ging. Isotopenanlage? Das war damals vor allem eine militärische Anlage zur Anreicherung von Uran235 für die Herstellung von waffenfähigem Uran. Der französische Verteidigungsminister Jacques Chaban-Delmas hatte eine solche Beteiligung Strauß angedient, der mehr als willig darauf einging. Es war de Gaulle, der diesen Deal später verhinderte. (Foto: De Gaulle und Franz Josef Strauß, 8. Juli 1962 in Reims, Bundesarchiv, B 145 Bild-F013405-0052 / Steiner, Egon / CC-BY-SA 3.0)

Bereits Matthias Küntzel hatte die Strauß-Memoiren in seinem Buch Bonn und die Bombe (unter dem Link ist das Buch als PDF kostenlos zum download bereitgestellt) aufgegriffen. Küntzel lässt in der Einleitung zu seinem Anfang der 1990er veröffentlichten Buch keinen Zweifel, dass nicht nur Strauß an deutschen Atomwaffen interessiert war: „Wie inzwischen nachgewiesen, hatte Adenauer in jener Zeit vor dem Bundeskabinett erklärt, über die europäische Zusammenarbeit »möglichst schnell« auch deutsche Atomwaffen produzieren zu wollen – ein Anliegen, das »der Alte« fortan im Auge behielt. Parlament und Bevölkerung wurden über jene Ausrichtung der deutschen Nuklearpolitik jahrzehntelang im Unklaren gelassen oder mit Unwahrheiten abgespeist.“ (S. 12)

In seinen „Erinnerungen“ berichtet Strauß, was über 30 Jahre in Deutschland geheim gehalten wurde: Die Franzosen hätten sich „nach den Erfahrungen während der Suezkrise im Herbst 1956 entschlossen“, so Strauß (Seite 313), „eine eigene Atombombe zu entwickeln und zu produzieren, um von den Vereinigten Staaten unabhängig zu sein.“ Um dies zu realisieren wollte die französische Regierung 1957 die Bundesrepublik beteiligen.

Ohne Wenn und Aber macht Strauß in seinen weiteren Ausführungen klar, dass es um die Atomwaffe ging. „Chaban-Delmas sagte mir, Paris sei fest entschlossen, jetzt die lsotopenanlage Pierrelatte zu bauen. Da dies ein sehr teures Vorhaben sei, würde man es gern gemeinsam mit den Deutschen und Italienern durchführen. Dieses in aller Sachlichkeit vorgetragene Angebot war mehr als eine Überraschung. Gemeinsame Entwicklung und Produktion sollte im Verhältnis 45 : 45 : 10 zwischen Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland und Italien aufgeteilt werden. Auf meine Frage, ob dies ein Angebot des Verteidigungsministers sei oder das Angebot der französischen Regierung unter Ministerpräsident Felix Gaillard, bestätigte Chaban-Delmas, daß es sich um eine Offerte der französischen Regierung handle.“

Die Isotopenanlage ist nichts anderes als die Urananreicherung, mit der das spaltbare Uran 235 über seinen natürlichen Gehalt von etwa 0,7 Prozent auf über 80 Prozent erhöht wird. Auf dieser Basis lassen sich Atombomben mit Uran als Sprengstoff bauen.

  • „Die Urananreicherung ist ein klassischer Weg, um nuklearen Brennstoff herzustellen. Diese aufwendige Technologie ist aber auch der Schlüssel zu Atomwaffen,“ schrieb 2007 der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) in einem Gastkommentar im Handelsblatt (2. Mai 2007). Steinmeier meinte den Iran. Aber mit der Urananreicherungsanlage der Urenco in Gronau verfügt seit Anfang der 1970er Jahre auch die Bundesrepublik über diesen Schlüssel. Und bis heute ist die Urenco vom bundesdeutschen Atomausstieg ausgenommen. So ist es in einem Artikel von mir in der Jungen Welt zu lesen. Der gesamte Text ist hier online.

Während öffentlich von interessierter Seite gegen eine immer deutlichere Forschungssituation gern beteuert wird, dass es keine deutschen militärischen Interessen für eine deutsche Bombe oder einen Zugriff gegeben hätte, machte Strauß mit den Ende der 1980er Jahre nach seinem Tod veröffentlichten „Erinnerungen“ klar, dass die Atomwaffe unbedingt in der Absicht deutscher Politik lag.

Deutlich wird dabei auch, wie er einerseits der offiziellen Linie entsprechend alle militärischen Anwandlungen öffentlich leugnet, gleichzeitig aber sehr klar in Richtung einer deutschen Teilhabe an der Bombe strebt. Strauß berichtet weiter: „Umgehend habe ich Konrad Adenauer von dieser Unterredung und ihrem brisanten Inhalt informiert. Seine Reaktion war die gleiche wie bei Schäffers Ausflug nach Ost-Berlin: Machen Sie es, aber wenn es Ärger gibt, weiß ich von nichts. Am 21. Januar 1958 lud ich die Verteidigungsminister Frankreichs und Italiens nach Bonn ein. Zwischen den Unterhändlern der drei Verteidigungsministerien wurde ein Entwurf vorbereitet. Diesen Entwurf im Gepäck, flog ich Ostern 1958 nach Rom. Es bestand kein Zweifel, daß die drei Länder in dieser Sache zusammenarbeiten wollten.“

Wie wichtig die ganze Angelegenheit war, zeigt sich auch im zeitlichen Verlauf. Denn schon am „Ostermontag 1958 trafen sich in einem Sitzungssaal des italienischen Verteidigungsministeriums in Rom die Verteidigungsminister Chaban-Delmas, Taviani und Strauß. Dort haben wir den Entwurf des Abkommens, das sich nicht auf nukleare Zusammenarbeit beschränkte, sondern eine erweiterte und fortgeschriebene Fassung des Abkommens von Sidi-bel-Abbes darstellte, ausführlich besprochen. Im Mittelpunkt stand die gemeinsame Entwicklung und Produktion von Atomsprengkörpern. Ich habe zu bedenken gegeben, daß die Deutschen hier natürlich in einer anderen Situation seien, da sie im Gegensatz zu Frankreich und Italien unter einem besonderen Vorbehalt stünden. Chaban-Delmas: »Sie meinen das Brüsseler Protokoll, das den Deutschen die Entwicklung und Produktion von ABC-Waffen auf deutschem Boden verbietet. Aber Sie sind doch völlig frei, das im Ausland zu tun. Und wenn wir Franzosen das anbieten, gibt es keine Bestimmung des Brüsseler Protokolls, die dem im Wege stünde.«

Es gibt angesichts dieser Aussagen von Strauß kein Vertun. Auch wenn die Initiative hier offenbar auf französischer Seite lag. Die Eilfertigkeit mit der Strauß dieses Angebot behandelt, spricht Bände. Und er ist sich natürlich der Problematik bewusst:

„Ich erklärte, daß dieses Thema für uns Deutsche eine explosive Angelegenheit sei, der Bundeskanzler und der Außenminister seien selbstverständlich unterrichtet. Um das heiße Eisen abzukühlen, schlüge ich vor, Punkt 11 des beabsichtigten Abkommens anders zu formulieren. Dort war von Atomsprengkörpern die Rede. »Welchen Text schlagen Sie denn vor?« fragte Chaban-Delmas. Meine Antwort: »Gemeinsame Erforschung und Nutzung der Kernenergie für militärische Zwecke.« Damit entfiele zum einen das heikle Wort Atomsprengkörper, zum anderen sei ein unabhängiges Energieversorgungsnetz für die Truppe von großem Interesse für uns. Was wir brauchten, so argumentierte ich, seien stromnetzunabhängige Generatoren, weil im Kriegsfalle das Stromnetz und damit die Stromversorgung unserer militärischen Einrichtungen ausfielen. Für solche Notaggregate kämen kleine Atommeiler in Frage – wir dachten damals, daß eine solche Entwicklung möglich sei. Interessiert seien wir auch an nuklearen Schiffsantrieben. Wenn das Abkommen bekannt werden sollte, könnte ich mich darauf zurückziehen, daß ich diesen Vorbehalt gemacht hätte. Wir könnten dann sagen, daß wir uns an diesem Gemeinschaftswerk beteiligten, daß unser Interesse aber nicht den Sprengkörpern, sondern transportablen Kleinreaktoren und atomaren Schiffsantrieben gelte.“

  • Nur am Rande erwähnt: Seit 1955 wird von Kurt Diebner und Erich Bagge die Errichtung einer Atomforschungsanlage für Schiffsantriebe in Norddeutschland angestrebt, die schließlich in Geesthacht auch errichtet wird. Mit der „Otto Hahn“ geht später das erste und letzte nukleare Frachtschiff in Betrieb. Immer wieder gibt es in der Literatur knappe Hinweise bzw. Andeutungen, dass es bei diesen atomaren Schiffsantrieben nicht so sehr um Antriebe für die zivile Schifffahrt gegangen ist, sondern vor allem um nukleare Antriebe für U-Boote. Siehe: Spurensuche: Militärische Motive der deutschen Atomenergie-Politik und die Atomforscher Kurt Diebner und Erich Bagge

„Das Abkommen wurde paraphiert, und jeder Unterzeichner nahm eine Kopie mit. Die Franzosen schlugen als nächsten Schritt die Besichtigung von Pierrelatte vor, danach sollten die Fragen der Arbeitsteilung und der Finanzierung geklärt werden. Aber es passierte nichts mehr. Das Siechtum der Vierten Republik beschleunigte sich, de Gaulle kam an die Regierung, aber die Einladung nach Pierrelatte blieb aus.“

Dass für Strauß diese Frage einer deutschen Beteiligung an der Atomwaffe mit Frankreich und Italien nicht irgendein untergeordneter Aspekt war, wird aus seinen Reaktionen deutlich. Als der wieder an die Macht gelangte de Gaulle die Pläne einer deutschen Beteiligung an der französischen Bombe stoppt, reagiert Strauß heftig und stoppt seinerseits den Kauf des französischen Kampfflugzeuges Mirage III. Ein heftiger Affront. Aber, so erklärt Strauß: „Ich habe den Kauf der Mirage eifrig betrieben, nicht zuletzt deshalb, weil es mir unlogisch schien, daß wir uns von den Franzosen die Kernwaffensprengkörper und von den Amerikanern die Flugzeuge verschafften. Die deutschen Militärs haben darauf hingewiesen, daß die Mirage zu klein ausgelegt sei, eine zu geringe Reichweite habe, daß ihre Elektronik nicht genüge, das Radar noch in den Anfängen stecke. Deshalb waren unsere sämtlichen Militärs gegen die »Mirage III«, sie wollten den Starfighter.“

Doch diese massive Drohkulisse führte nicht zum gewünschten Erfolg. Im Juli 1958 muss Strauß einsehen, dass es unter de Gaulle keine deutsche Beteiligung an der Entwicklung einer Atombombe geben würde. Für die deutsch-französische Zusammenarbeit ein schwerer Schlag: „Zurückgekehrt nach Bonn, ordnete ich an, die rüstungstechnische Zusammenarbeit mit Frankreich einzustellen und keine Gespräche mehr über den Ankauf französischer Rüstungsgüter zu führen. Meine Absage schlug in Paris ein wie eine Bombe, die ganze Hoffnung auf engere Zusammenarbeit mit den Deutschen und auf große Aufträge für die französische Rüstungsindustrie mußte begraben werden. Der Deutsche Botschafter in Paris, Herbert Blankenhorn, berichtete, die Franzosen seien bedrückt wegen der Abkühlung der Beziehungen und wollten die Sache wieder in Ordnung bringen.“

Doch um eine deutsche Beteiligung an Atomwaffen ging es in der Folge nicht mehr. Nicht weil man nicht wollte, sondern, so Strauß, weil Adenauer dies zu heikel war. Er selbst habe im Grund vom Verteidigungsminister Messmer in der Regierung de Gaulle eine Art Verständnis zur deutschen Beteiligung an einer französischen Atomwaffe erhalten, so Strauß. Adenauer hätte das nur in die Hand nehmen und de Gaulle gegenüber auf den Tisch legen müssen. Adenauer tat dies jedoch nicht.

Strauß tröstete sich nach dem Scheitern der Atomwaffenpläne mit einer anderen Vision der Zukunft, die Karl Fischer, Abteiligungsleiter Wehrtechnik im Verteidigungsministerium vorgebracht hatte: Vielleicht könnten gänzlich neue Waffensysteme, Laserwaffen eine Art „Überspringung“ des Problems mit der Atomwaffe ermöglichen?

In seinen „Erinnerungen“ räumt Franz Josef Strauß also unumwunden ein, dass es spätestens 1957/58 konkrete Planungen an einer deutschen Beteiligung an Atomwaffen mit Frankreich und Italien gab. Diese Pläne scheiterten. Aber es lohnt sich mit Blick auf den Einstieg in die vermeintlich zivile Atomenergie in Deutschland ein weiteres Mal auf Künztel verwiesen: Unter dem Stichwort „Das nukleare Stand By-Programm“ schreibt er u.a.: „Der Atomphysiker Otto Haxel gegenüber J. Radkau: »Strauß … habe ihm versichert, er selber sei nicht so dumm, zu glauben, daß die Bundesrepublik sich den Bau von Atombomben leisten könne. Er wolle die Möglichkeit dazu jedoch als Trumpf bei internationalen Verhandlungen in der Hand behalten.« (Fußnote 1150 bei Radkau 1983:517)“ (Küntzel, S. 29). Der Bau der Forschungsanlagen auf Basis von Natururan mit der Möglichkeit einer hohen Plutonium-Produktion, der in den 50/60er Jahren in Karlsruhe auf den Weg gebracht wurde, dürfte in jedem Fall ein weiterer „Trumpf“ gewesen sein, mit dem die Bundesrepublik in der Außenpolitik etwas „in der Hand“ hatte.

Dirk Seifert