Atomausstieg und Strahlenschutz – Nachruf Wolfgang Köhnlein (1933-2021)

Atomausstieg und Strahlenschutz – Nachruf Wolfgang Köhnlein (1933-2021)

Bereits am 22. Juli 2021 verstarb der frühere Präsident und langjähriges Mitglied der Gesellschaft für  Strahlenschutz  e.V., Prof. Dr. Wolfgang Köhnlein (Münster). Er gehörte zu den wenigen etablierten Hochschullehrern, die sich vor dem Atomausstieg in Forschung und Lehre gegen die Nutzung der Atomenergie verwendeten und gegen die öffentliche Verharmlosung von Strahlenschäden. 2009 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Der Physiker und Strahlenbiologe Prof. Dr. Wolfgang Köhnlein (Münster) hat sich über sein akademisches Amt hinaus in vielfacher Weise gesellschaftspolitisch engagiert und unter anderem den BUND in Fragen der Auswirkung von Atomkriegen und zu den gesundheitlichen Folgen der sog. “friedlichen” Verwendung der Atomenergie beraten. Der Vorsitzende Hubert Weinzierl berief ihn 1987 in die neu gegründete BUND-Strahlenkommission, weil nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl ein Expertengremium notwendig erschien, das den offiziellen Verharmlosungen der Folgen entgegentreten sollte. Köhnlein verstarb an den Folgen einer Erkrankung im Alter von 89 Jahren.

Dokumenatioan: Kritische Wissenschaft im Atomzeitalter:

Nachruf für Wolfgang Köhnlein (1933-2021)

von Inge Schmitz-Feuerhake und Horst Kuni Gesellschaft für Strahlenschutz e.V. / Nov. 2021

Am 22. Juli 2021 verstarb unser langjähriges Mitglied und früherer Präsident (1995-1999) der Gesellschaft für Strahlenschutz e.V. (GSS) Prof. Dr. rer. nat. Wolfgang Köhnlein. Er gehörte zu den wenigen etablierten Hoch- schullehrern in Deutschland, die sich lange vor dem Atomausstieg in Forschung und Lehre gegen die Nutzung der Atomenergie verwendeten und gegen die öffentliche Verharmlosung von Strahlenschäden wie u.a. durch die Medizindiagnostik.

Im Nachruf der Universität Münster wird hervorgehoben, dass er 2009 für sein jahrzehntelanges Engagement im Umweltschutz durch das Bundesverdienstkreuz geehrt wurde. Dazu gehörte seine Beteiligung an einer münster- ländischen Windkraftanlage.

Auch wird berichtet, dass er 1999 zum Mitglied und stellv. Vorsitzenden der deutschen Strah- lenschutzkommission SSK berufen wurde sowie 2000 als deutscher Vertreter in das internati- onale Strahlenkomitee der Vereinten Nationen UNSCEAR.

Wolfgang Köhnlein wurde 1933 in Lauerbach (Odenwald) geboren und studierte Physik an der Universität Heidelberg. Seine Doktorarbeit machte er am 1956 gegründeten Kernfor- schungszentrum Karlsruhe. Zu diesem gehörte ein neues Institut für Strahlenbiologie, dessen Direktor, der Physiker Karl Günther Zimmer parallel dazu eine ordentliche Professur für Strahlenbiologie an der Universität Heidelberg bekleidete. Zimmer wollte die strahlengeneti- sche Forschung fortsetzen, die vor dem 2. Weltkrieg am damaligen Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin-Buch betrieben und methodisch berühmt geworden war. Sein Doktorand Köhnlein pro- movierte 1962 an der Universität Heidelberg mit einer Arbeit über Primärwirkungen von ioni- sierender Strahlung (Bildung von Radikalen) auf lebende Materie an Hand von Bakteriopha- gen und ihrer Bestände an spezifischen Nukleinsäurebasen.

1964 erhielt er ein zweijähriges Forschungsstipendium des U.S.-amerikanischen National In- stitute of Health, das er an der Yale-Universität in New Haven, Connecticut, verbrachte. Zu- rück in Deutschland wurde er 1967 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Strahlenbio- logie der Universität Münster, angesiedelt in der medizinischen Fakultät, wo er sich 1972 für das Fach Strahlenbiologie und Biophysik habilitierte. 1975 wurde er dort zum Wissenschaftli- chen Rat und Professor für Strahlenbiologie und Biophysik ernannt.

Damit war der Höhepunkt seiner Karriere erreicht, denn nach dem Supergau im Atomkraft- werk Three Mile Island 1979, angesichts der offiziellen Vertuschungen der Umweltkontami- nationen und der Strahlenfolgen sowie der Verfolgung der wissenschaftlichen und juristischen Vertreter der Opfer, entwickelte und outete er sich als Atomenergiegegner. Zeitgemäß geriet er auf die Abschussliste der Atomlobby und sah sich hinfort auch den Schmähungen der Mainstreamwissenschaft ausgesetzt. 1994 wurde er noch zum Geschäftsführender Direktor des Instituts für Strahlenbiologie in Münster gewählt. Dieses Amt versah er im Bewusstsein, dass die Tage des Instituts gezählt sein würden, denn europaweit verschwanden solche unab- hängigen Forschungseinrichtungen, weil die Anwender ionisierender Strahlung in der Medi- zin genügend Kenntnisse über die Nebenwirkungen zu haben glaubten.

Wolfgang Köhnlein war auch in seiner Heimatgemeinde Havixbeck vielfach ehrenamtlich en- gagiert: mit seiner 2008 verstorbenen Frau Liselotte als Presbyter in der evangelischen Ge- meinde und in der Friedensinitiative Havixbeck sowie der Friedensinitiative der Nachbargemeinde Notteln.

Seine Berufung in die SSK, Beraterin des Bundesumweltministers, erfolgte unter der rot-grü- nen Regierung Gerhard Schröder (1998-2005) mit Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne), die den Ausstieg aus der Atomenergie zum Wahlkampfziel erklärt hatten. Dennoch sah Köhnlein seinem neuen Amt mit Enttäuschung und Skepsis entgegen. Er kommentierte dies in einem Schreiben vom 30.09.1999 als Präsident der GSS an die Mitglieder u.a. wie folgt:

. . . . .Wir hofften, daß die Politiker der SPD und der Grünen mit dem Ausstieg aus der Atomtechnolo- gie Ernst machen und sich für eine Verminderung der Kollektiven Strahlenbelastung einsetzen wür- den. Wiederholt haben wir Landes- und Bundespolitikern unsere Bereitschaft signalisiert, ihnen Argu- mente zu liefern und den Ausstieg wissenschaftlich zu begleiten. Wir haben wiederholt darauf hinge- wiesen, daß Wissenschaftler, die in den vergangenen Jahrzehnten für die Weiterentwicklung der Atom- industrie gearbeitet und so beruflich Karriere gemacht haben, wohl schwerlich die geeigneten Berater für einen Ausstieg aus dieser Technologie sein werden- Ähnliches gilt für Mitarbeiter in den Ministe- rien. Doch wir erhielten keine Resonanz. Auch die Vertreter der IPPNW und der Naturwissenschaft- ler-Initiative machten vergleichbare Erfahrungen. Beide Organisationen hatten in der Vergangenheit die Atom- und Rüstungspolitik scharf kritisiert. . . . . . .

Ende des Jahres 1998 hat sich dann endlich etwas auf der politischen Bühne bewegt. Nach langem Zögern und vielen internen Konsultationen und Einsprüchen teilweise auch vom Bundeskanzleramt löste der neue Umweltminister die Strahlenschutzkommission (SSK) und die Reaktorsicherheitskom- mission (RSK) auf. Dies führte zu heftigen Reaktionen einiger Berufsverbände und Interessengruppen. Es dauerte dann weitere drei Monate, bis es zur Berufung einer neuen Kommission kam. Natürlich wurde auch die GSS vom Umweltministerium gebeten, geeignete Vorschläge für eine Neubesetzung der SSK zu unterbreiten. Es wurden viele Gespräche geführt und wir hofften, daß auch mehrere Wis- senschaftler unserer Gesellschaft berücksichtigt würden. Zu unserer großen Überraschung wurde bei der Neubesetzung nicht der notwendige personelle Schnitt gemacht, der jetzt politisch möglich gewe- sen wäre, sondern 10 der alten SSK-Mitglieder wurden wiederberufen. Zu den vier neuen Mitgliedern in diesem 14 köpfigen Gremium gehören außer mir noch Herr Ch. Küppers vom Ökoinstitut in Darm- stadt, Herr Kirchner von der Uni-Bremen und Herr Schumacher vom Physiker Büro in Bremen. Bei der konstituierenden Sitzung der SSK wurde die Epidemiologin Frau Maria Blettner zur Vorsitzenden und ich zu ihrem Stellvertreter bestellt. Außerdem habe ich den Vorsitz im Ausschuß Strahlenrisiko. . .

Der Unfall in der Atomanlage in Tokaimura hat wieder einmal gezeigt, daß die Atomtechnologie men- schenfeindlich ist. Der Kritikalitätsunfall in einem „High Tech“ Land sollte auch uns wieder Mut ma- chen, energisch für die Beendigung dieser Technologie einzutreten. Das Interesse der Medien, die Meinung kritischer, unabhängiger Wissenschaftler zu hören, war an diesem Wochenende sehr bemer- kenswert. So waren mehrere Wissenschaftler der GSS wiederholt in Rundfunk und Fernsehen zu Wort gekommen. Noch am Unglückstag hat MONITOR das Thema aufgegriffen. Wir haben auch am Frei- tag eine Presseerklärung veröffentlicht, deren Wortlaut in der Homepage unserer Gesellschaft nach- zulesen ist.

In dieser Situation stellt sich für mich natürlich die Frage, wie es weitergehen soll. . . .

Auf der im Folgenden einberufenen Mitgliederversammlung der GSS am 20./31. Oktober 1999 wurde die Mitarbeit Köhnleins in der SSK für richtig gehalten, wenngleich er dort der einzige kritische Experte für gesundheitliche Strahlenfolgen sein würde. Eine gleichzeitige Wahrnehmung des Vorsitzes der GSS kam damit natürlich nicht mehr in Frage.

Seine Mitwirkung in der SSK bilanzierte Köhnlein später in Folge der Mehrheitsverhältnisse und mangelnder politischer Unterstützung als ergebnislos. Seinen Posten im Komitee UN- SCEAR ebenfalls, eine im Sinne der International Atomic Energy Agency IAEA arbeitenden Einrichtung, die von den Vereinten Nationen nicht nur zur Kontrolle von Kernwaffenmaterial sondern auch zur Förderung der „friedlichen“ Anwendung von Atomenergie großzügig finan- ziert wird.

Befriedigender und effektiver war trotz der Anfeindungen aber sicherlich sein langjähriges Wirken als Hochschullehrer, bei dem er die Möglichkeiten der Universität in Form von Lehr- veranstaltungen, Examensarbeiten und Forschungsprojekten für seine Aufklärungsbemühun- gen nutzte. Seine diesbezüglichen Themen waren außer Strahlenbiophysik und Strahlenfolgen in Lehr- und Fortbildungsveranstaltungen vornehmlich Forschungen zur biologischen Wir- kung von Neutronen sowie zum Dosiswirkungszusammenhang bei den Krebserkrankungen der japanischen Atombombenüberlebenden und generell im Niederdosisbereich. Letztere Ar- beiten führte er zusammen mit seinem Freund, dem Kernphysiker Rudi H. Nussbaum, em. Prof. der Portland State University (Oregon), durch.

Im Jahr 1988 – 2 Jahre nach der Tschernobylkatastrophe – organisierte er einen internationa- len Kongress an der Universität Münster: „Die Wirkung niedriger Strahlendosen“, der au- ßer von BUND1 und IPPNW2 auch vom Gesundheitsminister seines Bundeslandes NRW ge- sponsert wurde, und dessen Proceedings im Springer-Verlag erschienen. Eine weitere Publi- kation in diesem internationalen Wissenschaftsverlag gelang ihm 1990 mit den Beiträgen zu einem Symposium:“Niedrigstrahlung und Gesundheit. Medizinische, rechtliche und techni- sche Aspekte mit dem Schwerpunkt Radon“, das anlässlich des Auftretens kindlicher Leukä- miefälle in einem ehemaligen Uranabbaugebiet bei Birkenfeld (Rheinland-Pfalz) abgehalten wurde.

1989 gründete er zusammen mit 4 anderen deutschen Hochschullehrern den wissenschaftli- chen Verein Otto Hug Strahleninstitut e.V. (OHSI) und war seitdem Mitherausgeber der Reihe Berichte des Otto Hug Strahleninstitutes, in der bislang 25 Ausgaben erschienen sind. Er war außerdem Mitglied der Strahlenkommission, die der BUND nach Tschernobyl einbe- rufen hatte, um den internationalen und nationalen offiziellen Verharmlosungen entgegenzu- treten, die sowohl die Strahlenbelastung der betroffenen Bevölkerungen betrafen als auch die medizinischen Folgen. Die genannten externen Aktivitäten setzte er auch nach seiner Pensio- nierung 1998 fort.

Eine Liste seiner sämtlichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist über die Website des OHSI abrufbar (www.oh-strahlen.org). Eine Auswahl kritischer Schriften zu den Grundsatz- fragen des Strahlenschutzes sei hier angefügt:

Köhnlein W, Nussbaum RH: Neuere Erkenntnisse über die Gefährlichkeit niedriger Strahlendosen, Strahlentelex Nr. 90-91(1990) 3-11

Köhnlein W 1991, Mutagene und canzerogene Wirkung kleiner Strahlendosen, Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Biophysik, Homburg/Saar

Köhnlein W, Nussbaum RH: Reassessment of radiogenic cancer risk and mutagenesis at low doses of ionizing radiation. Adv Mutagen Res 3 (1991) 53-80

Nussbaum RH, Köhnlein W, Belsey RE: Die neueste Krebsstatistik der Hiroshima-Nagasaki-Über- lebenden. Eine unabhängige Analyse. Med Klinik 86 (1991) 99-108

Nussbaum RH, Köhnlein W: Reduzierte biologische Effektivität bei niedrigen Strahlendosen und kleinen Dosisraten: zwei veraltete Annahmen. In Lengfelder E, Wendhausen H (Hrsg), Neue Bewer- tung des Strahlenrisikos. Ges. f. Strahlenschutz e.V. 1. Int. Konferenz Kiel 1992, S. 197-207; MMV Medizin Verlag GmbH München 1993

Nussbaum RH, Köhnlein W: Inconsistences and open questions regarding low-dose health effects of ionizing radiation. Environ Health Persp 102 (1994) 656-667

 

1 Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V.

2 Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

 

Köhnlein W, Nussbaum RH: Die Aktivitäten und Empfehlungen der Internationalen Strahlen- schutzkommission (ICRP). In: Die Endlagerung radioaktiver Abfälle, 1995, Hrsg. IPPNW, S. 139-165.

  1. Hirzel Verlag Stuttgart, Leipzig

Nussbaum RH, Köhnlein W: Radiation and childhood cancer. Environ Health Persp 104 (1996) 353-354

Köhnlein W: Brustkrebs – eine vermeidbare Erkrankung? In Schmitz- Feuerhake I, Lengfelder E (Hrsg.), 100 Jahre Röntgen: Medizinische Strahlenbelastung – Bewertung des Risikos. Ges. f. Strah- lenschutz e.V. 2. Int. Konferenz Berlin 1995. S.19-27. Berichte des Otto Hug Strahleninstitutes Nr. 15- 18, 1997

Köhnlein W, Schmitz-Feuerhake I: Abschätzung der Spätschäden durch diagnostisches Röntgen in Deutschland. In Schmitz-Feuerhake I, Lengfelder E (Hrsg), 100 Jahre Röntgen: Medizinische Strah- lenbelastung – Bewertung des Risikos. Ges. f. Strahlenschutz e.V. 2. Int. Konferenz Berlin 1995. S. 78-

  1. Berichte des Otto Hug Strahleninstitutes Nr. 15-18, 1997

Köhnlein W, Ges. f. Strahlenschutz e.V.: Detmolder Leitlinien zum Strahlenschutz. Strahlentelex Nr. 278- 279 (1998) 2-7

Köhnlein W, Neumann W, Schmitz-Feuerhake I, Ziggel H: Gesundheitsgefahren durch radioaktiv kontaminierte Oberflächen von Brennelementtransportbehältern. Berichte des Otto Hug Strahleninsti- tutes Nr. 19-20, 1998, 43-74

Köhnlein W, Nussbaum RH, Chronic Low-Dose External Radioactive Exposure: False Alarm or Public Health Hazard? Medicine and Global Survival 5 (1998) 14-21

Köhnlein W, Nussbaum RH: Chronische Belastung durch kleine externe Strahlendosen; Falscher Alarm oder eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit? Arzt und Umwelt 11 Heft 2 (1998) 102-108

Köhnlein W: Überlegungen zur biologischen Wirkung von Neutronenstrahlung und deren Bewer- tung. Strahlentelex Nr. 602-603 (2012) 10-13

Wolfgang Köhnlein war in allem, wovon er überzeugt war, unnachgiebig, offen und direkt. Auf unsachliche Anfeindungen hat er sich nicht eingelassen. Wer das Glück hatte, Wolfgang näher kennenzulernen, war von einer empathischen Persönlichkeit tief beeindruckt.

Dirk Seifert