Juristische Kommentare zum Atomgesetz: Atomrecht – Streit inbegriffen

Juristische Kommentare zum Atomgesetz: Atomrecht – Streit inbegriffen

Ein Beitrag von Karl Amannsberger: Wer braucht denn so was? Für viele Menschen ist das Kapitel Atomkraft mit der Abschaltung der letzten AKWs in Deutschland im April 2023 abgeschlossen. Nicht so für die Autoren von zwei in den letzten Jahren erschienenen juristischen Kommentaren zum Atomgesetz (AtG) – der seit über 60 Jahren zentralen Rechtsgrundlage zur Nutzung der Kernenergie in Deutschland. Der jüngste Kommentar von Hennenhöfer/Mann/Pelzer/Sellner (HMPS) „Atomgesetz mit Pariser Haftungsübereinkommen“- 2021 im Münchener C.H. Beck Verlag erschienen – will „ den nunmehr erreichten Stand“ dokumentieren, stellt aber einleitend fest, dass heute „Regelungen zur Entsorgung im Mittelpunkt der atomrechtlichen Praxis“ stehen. Anders als der zwei Jahre davor erschienene NomosKommentar von Frenz konzentriert er sich auf das AtG selbst.

Frenz stellt ausführlich auch die im Zusammenhang damit entstandenen sog. Ausstiegsgesetze, insbesondere auch das Standortauswahlgesetz (StandAG) dar. Einen Schwerpunkt des HMPS–Kommentars bildet nach Darstellung der Herausgeber das nukleare Haftungs- und Entschädigungsrecht. Insofern könnte man die beiden Wälzer mit 700 bzw. 800 Seiten als einander ergänzend betrachten.

Ohnehin ist es erstaunlich, dass in der langen Geschichte der Atomkraft, in der erbittert auf den Straßen, aber auch in den Gerichtssälen gefochten wurde, so wenige Kommentare und die vor allem zu einem frühen Zeitpunkt erschienen. Mattern/Raisch erläuterten schon 1961 das ein Jahr davor in Kraft getretene AtG, das der seinerzeitige Atomminister Franz Josef Strauß verzögert hatte, weil er befürchtete, dass damit die militärische Nutzung der Atomenergie zu sehr behindert werde. 1962 folgte Fischerhof mit seinem Kommentar, der 1978 nochmals in einer zweiten Auflage erschien. Häufig mit ihm zusammen wurde der Kommentar von Haedrich aus 1986 zitiert. Dann gibt es eine über 30jährige Lücke, die 2002 nur von Posser/Schmals/Müller-Dehn unterbrochen wurde, die sich berufen fühlten, das Ausstiegsgesetz der Rot-Grünen Koalition von 2002 so zu interpretieren, dass es möglichst wenig Schaden anrichten sollte.

Den ( vorläufigen ?) Abschluss der Kommentierung in großen Werken (Atomrechtsliteratur gab und gibt es zuhauf) bildet das AtG/PÜ von Hennenhöfer et. al. Ein Blick in das Bearbeiterverzeichnis (nein, hier wird nicht gegendert!) zeigt eine ganze Reihe von Ministerialbeamten a.D., Rechtsanwälten am Ende ihrer anwaltlichen Karriere und sogar einen altgedienten Siemens-Mann. Die meisten von ihnen sind als glühende Verfechter der Nutzung der Kernenergie bekannt: Gerald Hennenhöfer, ehemaliger Leiter der Atomabteilung des Bundesumweltministeriums, der seine Tätigkeit für den Stromkonzern VIAG/Eon an dieser Stelle schamhaft verschweigt, Lothar Brandmair, in gleicher Funktion beim bayerischen Umweltministerium, Dieter Sellner, in dessen Kanzlei Hennenhöfer zeitweise tätig war, kämpfte u.a. erfolgreich für die Aufhebung des Baustopps beim AKW OHU II.

Nicht nur in der Zusammensetzung der Autorinnen und Autoren, auch an so mancher Stelle in der Kommentierung, kann man den Eindruck bekommen, dass da und dort noch einmal alte Schlachten geschlagen werden oder frühere Entscheidungen und Einschätzungen gerechtfertigt werden sollen. Wenn etwa Sellner für den sicherheitsorientierten Gesetzesvollzug einzelner Bundesländer in den 80er Jahren den Begriff „ausstiegsorientierter Gesetzesvollzug“ (S.8) verwendet oder Ulrich Waas, überzeugt vom Sicherheitsstandard deutscher Anlagen, behauptet, dass „a l l e“ Schwachstellen in deutschen KKWs bei regelmäßigen Prüfungen und Auswertung der Betriebserfahrungen erkannt wurden. Waas verschweigt, dass gegen die durch den Unfall in Harrisburg (USA) 1979 erkannte Gefahr der Wasserstoffexplosion (2011 in Fukushima tatsächlich passiert) in Deutschland jahrzehntelang keine Vorkehrungen getroffen wurden.

Am Beispiel des § 6 AtG sei ein Blick auf die unterschiedliche Herangehensweise der beiden jüngsten Kommentare geworfen. Für die durch die verlängerte Endlagersuche notwendige Langzeitzwischenlagerung abgebrannter Brennelemente und verglaster hochradioaktiver Abfälle weit über die genehmigten 40 Jahre hinaus, wird dieser Paragraph – der erst seit 2002 mit den Standortzwischenlagern sehr relevant geworden ist – noch an Bedeutung gewinnen. Posser – der Bearbeiter dieses Abschnittes bei HMPS – vertritt hier dezidiert eine Auffassung, die die Rechte der Bevölkerung und ihrer parlamentarischen Vertretung einschränken will. Die im Gesetz vor einer Verlängerung der Genehmigung vorgeschriebene „Befassung des Bundestages“ ist zwar nach seinen Worten „denkbar weit“ gefasst. Sich selbst widersprechend behauptet er aber apodiktisch, dass damit „keineswegs der Erlass eines Gesetzes oder auch nur eines schlichten Parlamentsbeschlusses gemeint sei, noch nicht einmal eine (überwiegend) positive parlamentarische Erörterung“. Da verwundert es schon nicht mehr, dass er – fern jeglicher naturwissenschaftlichen Logik und Gleichartigkeit der Zwischenlager – den Anwendungsbereich der Vorschrift nur für Zwischenlager „innerhalb des abgeschlossenen Geländes eines Kernkraftwerkes“ sieht.

Einen wesentlichen differenzierteren Blick auf den § 6 AtG hat der Kommentar von Frenz. Das mag auch daran liegen, dass die Bearbeiter dieses Werkes durchweg aktive Rechtsanwälte und Hochschullehrer sind und in ihrer beratenden Tätigkeit und in Gerichtsverfahren teils für die Betreiber von Nuklearanlagen, teils aber auch für die Bevölkerung und Naturschutzorganisationen arbeiten. Zwar kommen beide Kommentare gelegentlich zu gleichen Ergebnissen, bei Frenz sind sie jedoch meist ausführlicher belegt.

Noch ein Beispiel zum § 7 AtG – dem „Herzstück“ (Posser) des AtG. Im HMPS-Kommentar wird konzediert, dass sich durch Ausstieg, Wiedereinstieg und erneutem Ausstieg der Fokus auf die Kommentierung ändert. Trotzdem nimmt der § 7 AtG im HMPS- Kommentar mit über 100 Seiten – anders als bei Frenz – sehr breiten Raum ein. Im Unterschied zu sog. gebundenen Genehmigungen nach § 6 AtG, gibt es bei Genehmigungen nach § 7 AtG ein Ermessen, d.h. auch bei Vorliegen aller Genehmigungsvoraussetzungen hat die Behörde, die Möglichkeit, die Genehmigung zu versagen. Eine spannende juristische Frage, die bei HMPS unmissverständlich beantwortet wird! Beim heutigen Wissensstand über die Kerntechnik sei das „Ermessen auf Null reduziert“, der Antragsteller habe einen A_n_s_p_r_u_c_h auf Erteilung der Genehmigung.

Noch krasser wird es bei den Genehmigungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 2 Nr. 6, wonach „überwiegende öffentliche Interessen“ einer Genehmigung nicht entgegen stehen dürfen. In lediglich sechs Zeilen kommt Posser zum Ergebnis, dass „diese Regelung…in der Praxis keine eigenständige Bedeutung hat“. Im Hinblick auf die Tatsache, dass sowohl die Brennelementefabrik in Lingen als auch möglicherweise für die Urananreicherungsanlage Gronau Genehmigungsverfahren nach § 7 AtG anstehen, eine gewagte Behauptung.

Ungeachtet dessen, dass der HMPS-Kommentar auf Grund solcher Inhalte, aber auch auf Grund des Rufes von Herausgeber Hennenhöfer als Atomhardliner vielleicht als „Hardlinerkommentar“ in die Atomrechtsgeschichte eingehen wird, führt in der Praxis an ihm kein Weg vorbei – was wohl auch das Ziel der Herausgeber war. Die Fülle des Materials macht ihn, wie den früher erschienenen Atomrechtskommentar von Frenz, zu einem Muss für atomrechtlich Interessierte.

Foto: Karl Amannsberger

 

Dirk Seifert

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