Otto Hahn – Vor der Kernspaltung das Giftgas
Eine überaus spannende Recherche über Otto Hahn, einen der Entdecker der Kernspaltung (gemeinsam mit Fritz Straßmann und Lise Meitner), findet sich heute in einem Artikel von Reimar Paul in der taz. Unter der Überschrift „Otto Hahn führte Giftgaskrieg“ heißt es: „Hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs hat das Göttinger „Bündnis Antikriegsforschung“ verlangt, dem Chemie-Nobelpreisträger Otto Hahn die Ehrenbürgerschaft der Stadt Göttingen abzuerkennen und das Otto-Hahn-Gymnasium sowie die Otto-Hahn-Straße umzubenennen. Hahn selbst gehöre als „Kriegsverbrecher“ gebrandmarkt. Ein knappes Dutzend Initiativen und Organisationen unterstützen diese Forderungen. “
- UPDATE 22/12/2014: Bereits vor einiger Zeit hatte mich Vera Keiser darauf aufmerksam gemacht, dass der Nachweis, dass Hahn selbst Giftgas entwickelt hätte, in der Darlegung von Martin Melchert (siehe unten) nicht erbracht wird. Belege dafür, so schreibt sie in einer Mail an mich, sind nicht bekannt. Otto Hahn hat über die Beteiligung an Giftgas-Einsätzen bereits in seinem Memoiren „Mein Leben“ selbst ausführlich berichtet hat. So schreibt Hahn auf Seite 118/9 im Kapitel „Erster Weltkrieg“ z.B.: „Um diese Zeit herum wurden die Vorbereitungen für den geplanten großen Angriff mit Chlorgas abgeschlossen. Gasalarm wurde mehrfach gegeben, der Angriff selbst mußte aber immer wieder aufgrund der Witterungsverhältnisse verschoben werden, denn stets schlug – nach der Festlegung des Angriffstermins, der etwa 24 Stunden vorher zu erfolgen hatte- der Wind um, so daß die aus den Bereitschaftsstellungen herangeführten Truppen wieder abrücken mußten. Mitte April entschloß sich die Heeresleitung, alle Chlorflaschen wieder ausbauen und an einen Frontabschnitt nordöstlich von Ypern verlegen zu lassen, wo die Windverhältnisse günstiger waren.“ Und: „Vom Erfolg des ersten großen Gasangriffs an der Ypernfront habe ich nur aus Berichten erfahren.“ Auf Wikipedia wird Walter Gerlach, einer der im Zweiten Weltkrieg an der Atomforschung beteiligten Wissenschaftler im Uranverein: „Hahn hatte zunächst Bedenken, da er glaubte, dass die Verwendung giftiger Gase im Krieg gegen die ‚Haager Konvention‚ verstieß. Aber er ließ sich von Haber überreden. Das seine persönliche wie die staatsbürgerliche Erziehung bestimmende Pflicht- und Pflichterfüllungsprinzip und dazu die so ‚humane‘ Begründung, Gas verkürze den Krieg, erhalte also Menschenleben – der unselige Satz, dass der Zweck die Mittel heiligt – hatte seine Wirkung getan. 30 Jahre später, als mit der gleichen Argumentation der Abwurf der Atombomben in Japan gerechtfertigt werden sollte, musste Otto Hahn schwerer als sonst irgend jemand darunter leiden.“
Otto Hahn gehörte zu den führenden Wissenschaftlern Deutschlands, auch in der Nazi-Zeit. Für die Entdeckung der Kernspaltung Ende der 30er Jahre bekam er noch 1945 (!) den Nobelpreis zugesprochen. In der jungen Bundesrepublik gehörte der Göttinger Chemiker zu den Kritikern einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr, wie sie von der Regierung Adenauer und Atomminister Strauß in den 50er Jahren angestrebt wurde.
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Hahn war in Nazi-Deutschland führendes Mitglied im sogenannten Uran-Verein, der unter Hitler die Möglichkeiten der Kernspaltung auch für Waffenzwecke erforschte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehörte er zu der Forschergruppe, die im englischen Farm-Hall für ein knappes Jahr als „Gäste“ interniert waren. Dort wurden sie von den Briten über ihre Atom-Forschung für Hitler-Deutschland befragt und insgeheim abgehört.
Die Taz berichtet: „Recherchen des Göttinger Historikers Martin Melchert werfen ein Licht auf eine bislang weitgehend unbekannte Seite des Wissenschaftlers: Hahn war zwischen 1915 und 1918 die „rechte Hand“ des „Vaters des Gaskriegs“, Fritz Haber, bei der Entwicklung von Giftgasen wie Phosgen und Zyklon A. Er füllte eigenhändig hunderte Chlorgasgranaten und organisierte im Ersten Weltkrieg deutsche Giftgasangriffe. Melchert beschäftigt sich seit neun Jahren mit deutschen Forschungen zu Atombomben und anderen Massenvernichtungswaffen.“
Reimar Paul bringt einige konkrete Hinweise von Melchert über die Rolle, die Otto Hahn auch bei dem Einsatz von Giftgas spielte. „Der erste große Gasangriff begann am 22. April in Flandern. Auf einer Breite von 20 Kilometern schraubten deutsche Soldaten Tausende Gasflaschen zeitgleich auf. 170 Tonnen Chlorgas trieben als Wolke auf die feindlichen Schützengräben zu. Die kanadische Division und algerische Kolonialsoldaten wurden überrascht, das Gas verätzte ihre Atemwege, es entstand Panik. Hahn war als Mit-Organisator und „Frontbeobachter“ vor Ort. Seine Mitarbeiterin Lise Meitner gratulierte ihm zu dem „schönen Erfolg bei Ypern“.
Über diesen Einsatz berichtete auch die Welt vor einiger Zeit: „Bei Ypern brachen die Deutschen das Giftgas-Tabu„. Unter anderem heißt es in dem Artikel: „Der erste dokumentierte Großeinsatz von Kampfgas fand an der Westfront in Flandern statt. Verschiedentlich war schon vorher erfolglos versucht worden, mit chemischen Stoffe die feindlichen Soldaten aus den Schützengräben zu vertreiben und so die Eroberung Belgiens zu vollenden. Auch an der Ostfront hatten deutsche Kanoniere bereits Granaten mit Giftstoffen verschossen – ohne erkennbare Folgen.
Angesichts dieses „unbefriedigenden“ Ergebnisses hatte der Chemiker (und spätere Nobelpreisträger) Fritz Haber vorgeschlagen, bei passender Windrichtung Chlorgas abzusprühen. Mehr als 160 Tonnen dieses Abfallprodukts der chemischen Industrie kamen am 22. April 1915 bei Ypern zum Einsatz. Das Gas wurde aus fast 6000 Flaschen abgelassen und zog als sechs Kilometer breite und einen Kilometer lange Wolke über die gegnerischen Stellungen.
Genaue Verlustzahlen dieser Attacke gibt es nicht, sie waren aber hoch. In jedem Fall gelang der deutschen Armee an diesem „Tag von Ypern“ ein tiefer Einbruch in die Befestigungen der Franzosen und kanadischen Einheiten.“
Die Gitgaseinsätze deutscher Truppen gehörten sicherlich zu den grausamsten Verbrechen im Ersten Weltkrieg. Über Otto Hahn berichtet Paul außerdem: „Weitere Gasattacken in Flandern und an der Ostfront in Galizien folgten. Dort war Hahn „nicht nur beim Angriff persönlich anwesend, er trieb die zögerlichen Angreifer auch regelrecht voran“, schreibt Melchert. Hahn selbst erinnerte sich: „Der Angriff wurde ein voller Erfolg; die Front konnte auf sechs Kilometern Breite um mehrere Kilometer vorverlegt werden.““
Otto Hahn hat nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Anerkennungen erhalten. Nicht nur Schulen, Straßen und vieles mehr sind nach ihm benannt worden. In Berlin wurde das Hahn-Meitner-Institut für Kernforschung 1959 in Wannsee gegründet. „Kernstück des Forschungszentrums war der „Berliner Experimentier-Reaktor“, BER I. „Er ging am 24. Juli 1958 mit einer Leistung von 50 Kilowatt in Betrieb, also bereits ein Jahr vor Gründung des HMI. Der BER I diente noch der klassischen Kernchemie.“ Außerdem gehörte ein Teilchenbeschleunniger zum HMI. „Im April 1991 ging der Forschungsreaktor BER II nach jahrelangem Umbau und einer Leistungerhöhung auf 10 Megawatt erneut in Betrieb.“
Doch nicht nur in Berlin, wurde die Atomforschung unter dem Namen von Otto Hahn weiter getrieben. Nach der Gründung der Atomforschungsanlage in Geesthacht (GKSS), die offiziell die Verwendungsmöglichkeiten von Atomreaktoren in der zivilen Schifffahrt entwickeln sollte, wurde dort Anfang der 60er Jahre das erste atomgetriebene deutsche Handelsschiff konzipiert und – im Beisein des Wissenschaftlers – auf den Namen Otto Hahn getauft.
Die atomaren Hinterlassenschaften des Atomschiffs Otto Hahn – das im Hamburger Hafen damlas demontiert wurde – liegen als Atommüll heute an vielen Orten herum: Die bestrahlten hochradioaktiven Brennelemente sind in Lubmin bei Greifswald zwischengelagert. Und der Reaktordruckbehälter der Otto Hahn liegt immer noch in einem unterirdischen Betonsilo auf dem Gelände der inzwischen abgeschalteten Atomforschungsanlage, die heute vom Helmholtz Zentrum Geesthacht betrieben wird.
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Der Artikel von Reimar Paul bezieht sich auf „Recherchen“ des Atomkraft- und Atomwaffengegners Martin Melchert aus Göttingen. Die „weitgehend unbekannte, dunkle Seite des Wissenschaftlers“ Otto Hahn ist aber schon 1968 von ihm selbst in seinen Memoiren bekannt gemacht worden. Er widmet darin den Ereignissen des Ersten Weltkrieges ein ganzes Kapitel. Alle in dem Artikel genannten Fakten über Hahn stammen aus: Otto Hahn, Mein Leben, München 1968, S. 111 – 132. Herr Melcherts Darstellung basiert vollständig auf dem Hahn-Text ohne ihn als Quelle zu nennen. Es wird aber der Eindruck vermittelt, dass diese Fakten durch eigene Recherchen zu neuen Erkenntnissen geführt hätten (so etwas wird als ‚Plagiat‘ bezeichnet), die eine Neubewertung der Person Hahns erfordern würden.
In dem Text geht Hahn selbst auf die Frage der Kriegsverbrechen ein, die schon während des Krieges bezüglich der Person Fritz Habers diskutiert wurde. Jedoch verzichteten die Siegermächte darauf, ihn vor ein internationales Gericht zu stellen. Für die abkommandierten Wissenschaftler zu dieser Spezialtruppe stellte sich die Frage nicht. Neben Hahn gehörten als bekannteste Wissenschaftler auch die späteren Nobelpreisträger James Franck (Ehrenbürger der Stadt Göttingen) und Gustav Hertz (Stalinpreisträger 1951) zum Gasregiment 35. Anders als Herr Paul und Herr Melchert darstellen, wurde Hahn nach eigenen Angaben zum Militär regulär einberufen und später zu Habers Spezialtruppe abkommandiert. Freiwillig meldeten sich die Wissenschaftler zu den gefährlichen Selbstversuchen, weil sie als Fachleute die Gefahr am ehesten erkennen können. Hahn beschreibt in seinen Erinnerungen selbstkritisch die Beschämung, aber auch die emotionale Abstumpfung durch die Fronterlebnisse. Diese traumatischen Erfahrungen führten später zur rigorosen Ablehnung von Kernwaffen und seinen Einsatz für Frieden.
Hallo Frau Keiser,
danke für ihre Hinweise, die ich sehr wichtig finde. Der Text von Martin Melchert ist hier ja auch online im Original zu lesen: http://www.goest.de/otto-hahn.htm.
Die Momoiren von Herrn Hahn habe ich natürlich leider nicht vorliegen, so dass ich ihre Hinweise im Moment nicht weiter überprüfen kann. Aber wenn ich ihren Hinweis richtig verstehe, geht es darum, dass der Quellen-Beleg fehlt – wobei ich zustimmen würde, dass dieser wichtig ist, da sich Otto Hahn dort offenbar selbst zu den Vorgängen äußert. Vielleicht könnten sie mir eine Auszug als PDF zukommen lassen? Ein Bewertung dessen, wie die Beteiligung von Otto Hahn aus heutiger Sicht zu sehen ist, bleibt freilich ungeachtet damaliger Einschätzungen zu diskutieren.
Beste Grüße
Dirk Seifert
Hallo Herr Seifert,
das Referat von Herrn Melchert habe ich gelesen. Den Nachweis, dass Hahn selbst Giftgas entwickelt hätte, kann er in seiner Darlegung nicht erbringen. Das ist auch nicht möglich, weil hierzu keine Belege bekannt sind. Als Historiker kann sich Dr. Horst Kant nicht auf solche Behauptungen einlassen, was Herr Melchert aber als Weigerung wahrnimmt. Herrn Melcherts Text weist einige Mängel auf. So müssen sich die Leser die Literaturliste selbst erarbeiten, was für den Fachfremden äußerst schwierig ist. Ein Nachschlagen der Fußnoten wird sehr schwer bis unmöglich. Was dabei aber auffällt, ist das Fehlen jeglicher Primärquellen. Es wird Sekundärliteratur zitiert, der häufig selbst die Quellenangaben fehlen. Weiterhin fällt mir die Voreingenommenheit des Autors auf, die zum Beispiel daran deutlich wird, dass er es als paradox empfindet, dass alle Fakten zu Hahns Einsatz im Ersten Weltkrieg von ihm selbst stammen. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Text, erkennbar an solchen Bemerkungen wie „Schuldgefühle sind schnell verflogen“ oder „seine flüchtige Erschütterung“ sei nur kurzzeitig gewesen. Als Atomkraftgegner ist es Herrn Melchert nicht möglich, sich unvoreingenommen einer historischen Person zu nähern, die mit Überzeugung für die friedliche Nutzung der Kernenergie eintrat. Dies ist aber eine äußerst ungünstige Voraussetzung für eine seriöse historische Aufarbeitung. Die veränderte Bewertung der Kerntechnik und die heutigen Maßstäbe werden vielfach auf die Wissenschaftler der Grundlagenforschung übertragen, was zu haarsträubenden Verzerrungen führen kann. Man merkt, dass dieser Text eine aktuelle Forderung untermauern soll und weniger an der historischen Wahrheit orientiert ist. Herr Melchert ist, wie er selbst angibt kein Historiker und von daher kann man ihm nicht verübeln, dass er an jeder Stelle, seine eigene Einschätzung einfließen lässt. Es gibt auch einige Unrichtigkeiten, z. B. hat Hahn weder das Giftgas, noch die Gasmaske „erfunden“. Und doch ist dieses Dokument mit einer politischen Forderung verbunden, sodass man hier deutlich zur Mäßigung aufrufen muss. Dass Hahn nicht von den Siegermächten als Kriegsverbrecher gesucht wurde, erklärt Melchert mit „internationaler Unbekanntheit“. Dass Hahn auch nach Erscheinen seiner Memoiren 1968 Ehrenbürger von Göttingen blieb, versucht Melchert nicht zu erklären.
Man sollte solche Darstellungen immer überprüfen und sich anhand der Primärquellen ein eigenes Bild machen. Das ist in diesem Fall recht einfach. Das Buch war früher sehr verbreitet, heute ist es offensichtlich unbekannt. Man kann es für wenige Euro antiquarisch im Internet bekommen. Ich kann auch den Abschnitt einscannen und Ihnen zukommen lassen, wenn ich weiß, wohin ich das PDF schicken soll.
Vielen Dank für Ihr Interesse und viele Grüße!
Vera Keiser