AKW Brokdorf – eine lange Geschichte vom Widerstand
Kaum ein Atomreaktor war so umstritten, kaum ein politischer Streit hat soviele Menschen bis heute geprägt, kaum ein Widerstand war vielschichtiger und andauernder als der Konflikt um das AKW Brokdorf. Hier erzählen wir einen Ausschnitt des Atomkonflikts, der 1976 seinen Anfang nahm, der von Macht und Ohnmacht und vom atomaren Wahnsinn handelt und bis heute nicht beendet ist.
Der Nachmittag des 30. Oktober 1976 ist ein nebliger und verregneter Tag, wie er im Norden zu dieser Zeit normal ist. Tagelang hatte es genieselt, der Boden der Wilster Marsch ist matschig. Dass der graue Samstag zu einem denkwürdigen Datum werden sollte, ahnte in der Region daher niemand.
Und das, obwohl die Zeichen eigentlich auf Sturm stehen: Wenige Tage zuvor hatte die Atomkraftwerks-Betreiberfirma Nordwestdeutsche Kernkraftwerks AG (NWK) ein Areal am Rande des schleswig-holsteinischen Dorfes Brokdorf in der Wilster Marsch in einer Nacht- und Nebel-Aktion gekapert. Werkschützer sichern seither das Terrain rund um die Wettern – wie die natürlichen Wassergräben heißen – mit Reizgassprüh-Geräten und gefährlichem Nato-Draht. Diese borstigen und silbernen Drähte, in denen sich Menschen leicht verheddern, verursachen scheußliche, schwere Wunden.
Ein weiteres AKW
Ein weiterer Atommeiler der an der Elbe rund 40 geplanten AKWs soll für die Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW) – die heute dem schwedischen Energiekonzern Vattenfall gehören – in Bau gehen. Die HEW bauten in jener Zeit bereits im allgemeinen Industrialisierungs-Wahn des Hamburger SPD-Wirtschaftssenators Helmuth Kern an der Elbe parallel die Atomkraftwerke Stade (Inbetriebnahme: 1972) am niedersächsischen Ufer sowie gegenüber in Dithmarschen den Reaktor Brunsbüttel (Inbetriebnahme: 1977) und den Reaktor in Krümmel bei Geesthacht (Inbetriebnahme 1984).
Die Anwohner der Region lassen sich durch den Coup nicht schocken. Die Hamburger Anti-AKW-Aktivistin Almuth Lüthje und einige Weggefährten – zum Teil hochkarätige Wissenschaftler des Arbeitskreises „Politische Ökologie“ und der Bremer Physiker Jens Scheer – hatten auf die Region schon längst ein Auge geworfen und sich auf den „Tag X“ vorbereitet. Da die Bauern bei den gesetzlichen Anhörungen von den Behörden schikaniert wurden, war nun praktischer Widerstand angesagt.
Auch wenn die DemonstrantInnen an jenem 30. Oktober 1976 frühzeitig vor dem Bauplatz in der Nachbargemeinde Wewelsfleth gestoppt werden, marschieren sie im Friesennerz und Gummistiefeln über die Straßen, Schleichwege und Wiesen entlang der Wettern nach Brokdorf, um nach kilometerlangen Märschen an ihr Ziel zu kommen. Der pazifistische Song begleitet sie: „Wehrt euch, leistet Widerstand, gegen die Atomkraft im Land“, so der Refrain, „…schließt Euch fest zusammen….“ Das Lied sollte zum Kampfruf der Anti-AKW-Bewegung werden.
Die Konfrontation nimmt ihren Lauf. Mit Drahtscheren ausgestattet schnippen die 8.000 DemonstrantInnen die Zäune auf, Bauern und Anwohner werfen als Transparente getarnte Teppiche auf die Nato-Draht-Barrieren, um diese unverletzt zu überwinden. Leute machen sich an Leitplanken der so genannten NWK-Stichstraße zu schaffen, liften sie aus dem feuchten Boden, um sie zerkleinert als Brücken über die Wettern zu nutzen. Werkschützer und Polizisten versuchen mit neuen Reizgassprüh-Geräten ihre Niederlage zu verhindern.
Doch der menschliche Druck von außen ist zu groß. Bei Einbruch der Dunkelheit steht fest: Ein großer Teil des Bauplatzes am Elbdeich ist besetzt!
Nur eine eiligst aufgebaute Nato-Draht-Barriere zu den NWK-Unterkünften und dem Polizei-Areal quer über das Gelände verhindern die gesamte Besetzung des Platzes. Matratzen und Verpflegung für die zahlreichen Platzbesetzer werden herangeschafft.
Die Kralle des Staates
Doch die Euphorie hält nur kurz an. Obwohl die Polizei unter Vermittlung eines Pastors versichert, den Status quo der Besetzung zu akzeptieren, vermeldet die Tagesschau bereits um 20 Uhr die Räumung des Platzes.
Eineinhalb Stunden später beginnt das gemeldete Szenario: Knüppel und Reizsprüh-Einsätze der NWK-Werkschützer ohne Maß. Wasserwerfer räumen die befestigten Straßen, schießen auf dem Platz mit Reizgas-Wasser über die Nato-Draht-Barrieren in die Menge. Weil die Menschen ein derart brutales Vorgehen nicht erwartet hatten, gibt es viele Verletzte. Auf dem Areal des Bauern Ali Reimers muss von Sanitätern und Ärzten improvisiert ein Lazarett eingerichtet werden, um die Reiz- und Tränengas-Verletzten zu versorgen.
Tags darauf demonstrieren erneut 4.000 Menschen vor dem geplanten AKW Brokdorf. Diesmal gegen die Polizeiwillkür. Der Bürgermeister der Nachbargemeinde Wewelsfleth, Eckhard Sachse fordert zum Widerstand auf. Der Brokdorfer Bürgermeister Eckhard Block hatte sich für eine NWK-Spende für ein Dorf-Schwimmbad seinen Widerstand abkaufen lassen.
Allein in Hamburg gründen sich nach den Ereignissen des 30. Oktobers innerhalb weniger Tage mehr als 30 Bürgerinitiativen in den Stadtteilen oder zu Themenschwerpunkten. Zu deren Treffen kommen Dutzende entsetzter Menschen. Hinzu kommt, dass sich nach anfänglichem Zaudern die so genannte „K-Gruppen-Bewegung“ – Kommunistischer Bund (KB), Kommunistischer Bund Westdeutschland (KBW) sowie die KPD/AO und die KPD/ML – in den Metropolen Hamburg und Bremen dem Thema Atomkraft annehmen. Die Organisationen können im Norden auf mehr als 10.000 AktivistInnen zurückgreifen. Die örtliche Bürgerinitiative Unterelbe (BUU) entwickelt sich in der Elbregion zum Dachverband und an der Weser entstehen die Bremer Bürgerinitiativen gegen Atomanlagen (BBA).
Bauplatz zur Wiese
Bereits am 13. November 1976 bläst die Anti-Atom-Bewegung zur erneuten Machtprobe. 45.000 Menschen versammeln sich am Bauplatz. Motto: „Der Bauplatz muss wieder zur Wiese werden.“ Die Besetzung wird erneut versucht.
Es gibt eine stundenlange Schlacht, die es in der Intensität noch nicht gegeben hat. Steine und Wurfgeschosse fliegen auf die im AKW-Gelände postierten Polizeieinheiten, diese werfen offenbar in Verzweiflung mit Steinen zurück. Denn die ätzend angereicherten Flüssigkeiten aus den Wasserwerfern sowie die Tränengas-Granaten zeigen keine abschreckende Wirkung auf die Menge auf den Deichen – den ProtestlerInnen gelingt es oft, die Tränengas-Granaten einfach ins tiefer liegende Gelände wieder zurückzuwerfen, wo sie vor den Füßen der Polizeieinheiten explodieren. Einige Wasserwerfer werden auf den befestigten Straßen mit Manpower und Seilen geentert, manövrierunfähig beinahe in die Wettern katapultiert.
Die Polizei-Hubschrauber werden mit Aluminium-Drachen auf Höhe gehalten, die Alu-Flieger legen zudem den Polizeifunkverkehr weitgehend lahm. Doch eine erneute Bauplatzbesetzung misslingt. Der Rauch der Tränengas-Schwaden hängt noch Tage über der Wilster Marsch.
Der neue Trend
Motorradhelme und Gasmasken sind in diesen Tagen auf dem Schwarz-Markt der Renner. Und die kleine gelbe Plakette „Atomkraft – nej tak“ von den dänischen Nachbarn wird eingedeutscht. Der „Atomkraft – nein Danke!“-Button gehört seitdem zum Accesscoire vieler ökologisch aufgeschlossener Menschen – entweder am Revers der Kleidung oder als Autoaufkleber am Heck des PKW.
Es folgt eine weitere Protestwelle der Anti-Atom-Bewegung am 19. Februar 1977. Im Vorwege hat es nach dem brutalen Polizeivorgehen Differenzen über die richtige Strategie gegeben. Der Anti-AKW-Bewegung droht die Spaltung.
Jeweils etwa 40.000 Menschen reisen zu den zwei verschiedenen Kundgebungen nach Wilster und in die Kreisstadt Itzehoe. Aber der Massenprotest zeigt auch Wirkung, die Verwaltungsgerichte verhängen einen Baustopp für das AKW Brokdorf.
Nahezu zeitgleich verkündet der niedersächsische CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht provokativ, dass er die Salzstöcke von Gorleben im Wendland zum atomaren Endlager auserkoren habe, nach dem ein Jahr zuvor eine Brandrodung über dem Atommülllager-Areal den Weg geebnet hatte.
Exkurs: ENDLAGERUNG wird zum Problem: Fliegen ohne Landebahn
Die Atommüllentsorgung spielte in den Anfangsjahren der Atomwirtschaft keine Rolle. Erst Ende der 70er Jahre, als der Widerstand gegen den Bau von AKW in der Bevölkerung wuchs, gewann das Thema an Bedeutung.
Das OVG Lüneburg verhängt im Frühjahr 1977 für das AKW Brokdorf einen vierjährigen Baustopp , u.a. weil die Entsorgung des Atommülls völlig ungeklärt ist. In aller Eile entwickelte damals die Politik ein Entsorgungskonzept, in dem ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ mit einem Endlager in Gorleben im Zentrum stand.
Um die Zeit bis zu einer Inbetriebnahme zu überbrücken, erklärte die Bundesregierung den anfallenden Atommüll aus den Brennelementen kurzerhand zum Wertstoff. Denn durch den Einsatz im Atomreaktor entstand in den Brennelementen neues spaltbares Plutonium. Dieses sollte als Wertstoff abgetrennt und später als neuer Brennstoff für so genannte Brut-Reaktoren eingesetzt werden. Die hochradioaktiven Brennelemente wurden als Wertstoff in die Wiederaufarbeitungsanlagen (WAA) nach Frankreich (La Hague) und später auch nach England (Sellafield) gebracht. Daran wurde sogar noch festgehalten, als die Plutonium-Wirtschaft in Deutschland mit dem Schnellen Brüter in Kalkar, der Plutoniumfabrik in Hanau und der WAA Wackersdorf längst aufgegeben worden war. Dies war bis zum Jahr 2005 „Entsorgungspraxis“. Der hochradioaktive WAA-Abfall ist aber nicht aus der Welt: Seit Jahren wird er mit Castortransporten in das oberirdische Zwischenlager nach Gorleben gebracht.
Rechtlich fungierte das beschriebene System als Entsorgungs-Vorsorge-Nachweis und sicherte so den Betrieb der AKW in Deutschland. Die rot-grüne Bundesregierung beendete 2005 diesen Weg über die Wiederaufarbeitung – nicht zuletzt wegen der enormen Kosten. An allen AKW wurden nun so genannte Standort-Zwischenlager errichtet. Belüftete Hallen, in denen die bestrahlten Brennelemente in Castorbehältern für rund 40 Jahre bis zu einer Endlagerung abgestellt werden. Seitdem wachsen die Atommüllberge an den AKW-Standorten weiter an. EXKURS ENDE
Von Brokdorf nach Grohnde….
Von Brokdorf aus mobilisieren Anti-Atom-Gruppen auch zu Protesten an den anderen AKW-Baustellen der Republik. Den Höhepunkt der Militanz – aber auch ihre Grenzen – zeigt die Schlacht um das niedersächsische AKW Grohnde bei Hannover am 19. März 1977 auf. Zur Spaltung der Anti-Atom-Bewegung ist es zwar nicht gekommen, aber nicht jeder der Aktivisten der ersten Stunde ist vor Ort, als 20.000 Menschen in Grohnde demonstrieren. Viele sind mit passendem Handwerkzeug ausgerüstet:
Drahtscheren, Bolzenschneider, Flex-Maschinen, Schweißbrenner. Helme, Gasmasken und Schutzschilde gehören ohnehin zur Standard-Ausrüstung. Die Vertrauensleute der Gruppen koordinieren sich über CB-Funk. Die jeweiligen „Kampftrupps“ rekrutieren sich aus den angereisten Initiativen oder Buskontingenten. „HH“ steht für Hamburg, „HB“ für Bremen und „H“ für Hannover: Die Trupps werden über Ansagen aus dem Megaphon oder den Funkgeräten koordiniert. „H 1 bis H 5 “ zu „HB 12 bis HB 14“, „HH 1 bis 8 bleibt in Position“, „HH 9 bis HH 18 konzentriert sich hinten auf die Pipeline ….“
Kein militanter Erfolg
Eine Weile sieht es so aus, als könnte der Bauplatz Grohnde erobert werden. Zumal die Wasserzuleitung zum Terrain von den AKW-Gegnern gekappt werden kann und damit die Wasserwerfer ohne Nachschub da stehen. Aber es zeigt sich, dass es im Kampf gegen die staatliche Macht auch Grenzen gibt, wenn keine Menschenleben gefährdet werden sollen. Nachdem der robuste Bauzaun an einer Stelle geknackt worden ist, zeigt die Staatsmacht ihre Zähne. Dutzende Reiterstaffeln der bundesdeutschen polizeilichen Kavallerien werden ohne Rücksicht auf Verluste ins Feld geschickt, um ein Fiasko für die Atommafia zu verhindern. Es gibt viele Schwerverletzte.
Und der Staat rüstet weiter auf. Notstandsgesetze, Rasterfahndung und die Allzweckwaffe des Paragraphen 129a (Bildung terroristischer Vereinigungen), die im Zuge der Fahndung nach der RAF zuvor geschaffen worden sind, werden auch zunehmend gegen die Anti-Atomkraft Bewegung eingesetzt. Das merken die Teilnehmer des Hamburger Konvois zur Demo gegen den Schnellen Brüter in Kalkar am 24. September 1977. Als sie in eine Polizeisperre im niedersächsischen Sittensen fahren, stehen sie nicht nur Polizisten ausgerüstet mit Knüppel und Wasserwerfern gegenüber, sondern blicken auf dem mit Scheinwerfer erleuchteten abgelegenen Terrain in Maschinenpistolenläufe.
Hunderte werden festgenommen, in „grünen Minnas“ in abgelegene Hallen transportiert und erkennungsdienstlich nach den Normen der RAF-Fahndung behandelt. Dutzende von BUU-Bussen müssen auf der Autobahn wenden, kehren mit Tausenden um. Der legendäre Deutsche Herbst hat begonnen.
Während es an den AKW-Bauplätzen ruhiger wird, verlagert sich der Widerstand Richtung Gorleben, wo zahlreiche Atomanlagen entstehen sollen. Nicht nur das Endlager für hochradioaktiven Atommüll, sondern auch eine Wiederaufarbeitungsanlage sollen im Wendland an der Grenze zur DDR entstehen. Vor Ort regt sich der Widerstand, machen Bürgerinitiativen mobil. Zum 31. März 1979 rufen sie zu einem „Treck nach Hannover“ unter dem Motto „Albrecht wir kommen“ (Albrecht war der damalige CDU-Ministerpräsident, der Gorleben zum Atomstandort gemacht hat.). Während der einwöchigen Anreise mit hunderten von Treckern kommt es im amerikanischen Atomkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg am 28. März zur Katastrophe. In Harrisburg droht nach einer Verkettung von Handhabungsfehlern und technischen Mängeln der Super-GAU. Tagelang bangt die Welt, ob die Techniker den Reaktor wieder unter Kontrolle bringen. Mehrfach wird der Druck aus dem Reaktorinneren über Ventile abgeblasen. Damit gelangt auch Radioaktivität in die Umgebung. Es droht eine Wasserstoffexplosion. Der Reaktorkern ist geschmolzen, als in letzter Minute die Kühlung wieder in Gang gesetzt werden kann.
Unter dem Eindruck dieser Ereignisse demonstrieren schließlich rund 100.000 Menschen in Hannover gegen die Atomenergie und gegen die Pläne für Gorleben.
1981 – Noch mal aufbäumen
Nachdem der Baustopp in Brokdorf aufgehoben worden ist, bäumt sich die Anti-AKW-Bewegung noch mal auf. Im Februar 1981 kommt es zur bis dahin größten Demonstration. Wochenlang findet in den Medien eine enorme Hetze statt, wird vor Gewalttätern und Chaoten gewarnt und die Demonstration schließlich verboten. Dennoch ziehen über 100.000 Menschen bei Minus 10 Grad und eisigem Wind und allen massiven Polizeisperren zum Trotz am 28. Februar 1981 in Richtung Bauplatz. Die juristische Auseinandersetzung um die Demonstration wurde später Gegenstand des Brokdorf-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts. Das Gericht stellte fest, dass das Verbot der Demonstration verfassungswidrig gewesen war.
Doch Bundes- und Landesregierung zeigen demonstrativ Härte: Der Weiterbau in Brokdorf beginnt. Für viele Menschen ein Schock. Angesichts der wachsenden Betonhülle in der Wilstermarsch bricht der bis dahin breit aufgestellte Widerstand zusammen.
Wie fest die Atomlobby im Sattel sitzt, muss auch Hamburgs Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) erfahren: Am 25. Mai 1981 tritt der von seinem Amt zurück, nachdem er den von ihm gewünschten Ausstieg der HEW aus dem Kraftwerksprojekt Brokdorf nicht gegen Teile der Hamburger SPD-Führung durchsetzen konnte.
In den folgenden Jahren verlagert sich der Widerstand in Richtung Gorleben, viele AktivistInnen engagieren sich in der Friedensbewegung gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluss. Nur vereinzelt versuchen gewaltfreie Aktionsgruppen die Bauarbeiten mit Blockaden zu verzögern. In Brokdorf schreiten die Bauarbeiten voran.
Deutschland setzt weiter auf Atomenergie, will mit allen Mitteln nicht nur AKWs betreiben. Im bayerischen Wackersdorf soll eine deutsche Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) entstehen. Hier soll das Plutonium aus abgebrannten und daher hochradioaktiven Brennelementen herausgetrennt werden. Eine solche Plutoniumfabrik ist nicht nur für Mensch und Umwelt hochgefährlich. Das abgetrennte Plutonium kann auch für militärische Zwecke genutzt werden. Im Schatten der Demonstrationen um den NATO-Nachrüstungsbeschluss (Stationierung us-amerikanischer Pershing-Raketen mit Atomsprengköpfen in Westdeutschland) werden in Bayern nun viele Tausend Menschen aus der Anti-Atom- und Friedensbewegung gemeinsam gegen den Bau der WAA Wackersdorf aktiv.
Brokdorf im Schatten von Tschernobyl
Erst Ende 1985 sammeln sich noch einmal Anti-Atom-Aktivisten aus der alten BUU, der Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe. Ihr Ziel ist eine Demonstration kurz vor der Fertigstellung des AKW. Doch es kommt anders.
Im April 1986 explodiert in der sowjetischen Ukraine ein Block des AKW Tschernobyl. Das Dach des Reaktors wird durch die Explosion aufgerissen, tagelang brennt es und eine radioaktive Wolke zieht Richtung Norden und Westen nach Europa. Die sowjetischen Behörden versuchen die Katastrophe zu verschweigen, aber in Schweden melden die Behörden einen enormen Anstieg der Radioaktivität in der Luft. Nach und nach wird bekannt, dass es in Tschernobyl zum Super-Gau gekommen ist. Große Gebiete in der Ukraine, Weißrussland und Belarus werden durch den Fallout aus der radioaktiven Wolke verstrahlt. Erst Tage nach der Explosion werden rund um den Reaktor zigtausende Menschen evakuiert, während viele tausend Armeeangehörige und Feuerwehrleute versuchen den Brand im Reaktor zu stoppen. Bis heute ist die Umgebung von Tschernobyl Sperrgebiet, erkranken Kinder und Jugendliche vor allem in den nördlichen Nachbarländern an Krebs aufgrund der immer noch erhöhten Strahlung.
Auch in Deutschland steigt die Radioaktivität an: Nahrungsmittel werden verseucht, vor allem die Milch ist stark belastet. Ganze Ernten werden untergepflügt. Es kommt zu einem heftigen politischen Streit über die Grenzwerte in den Nahrungsmitteln – vor allem für Säuglinge und Kinder.
Während die Atomlobby in Deutschland versucht, die Ereignisse herunterzuspielen und die Sicherheit westlicher Reaktoren gegenüber den maroden Sowjet-AKWs propagiert, mobilisiert die Anti-Atom-Bewegung. In vielen Orten gründen sich neue Initiativen, oftmals sind es junge Mütter, die sich gegen Atomkraft zusammenschließen. Die Debatte um einen Ausstieg aus der Atomenergie wird heiß geführt. In den Gewerkschaften, aber auch in der SPD führt die Katastrophe von Tschernobyl zu einem Umdenken im Umgang mit der Atomenergie.
Gemeinsam ruft ein breites Bündnis von Organisationen und Initiativen für den 7. Juni 1986 zu Demonstrationen in Wackersdorf und am fast fertiggestellten AKW Brokdorf auf. Jeweils 40.000 Menschen beteiligen sich an den Demonstrationen. Die Polizei setzt auf Eskalation. Mit massiven Sicherheitskontrollen wird in einem Ring rund um Brokdorf die Anfahrt der DemonstrationsteilnehmerInnen gestoppt, stundenlang Busse und Fahrzeuge kontrolliert. Viele Menschen erreichen die Kundgebung am AKW gar nicht erst. Die Anfahrt des Hamburger Konvois, an dem sich 10.000 Menschen beteiligen, wird bei Kleve brutal gestoppt. Zahlreiche PKWs werden von der Polizei demoliert, die Insassen verprügelt. Am AKW Brokdorf geht die Polizei gegen friedliche KundgebungsteilnehmerInnen vor. (Broschüre zu Ereignissen damals: Brokdorf – Kleve -Hamburg, (PDF))
Die Empörung angesichts der Polizei-Brutalität ist groß. Bereits für den nächsten Tag verabreden sich viele zu einer Demonstration gegen die Polizei-Gewalt auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg. Rund 1000 Menschen versammeln sich an diesem 8. Juni. Gegen 12 Uhr werden sie noch auf dem Sammelort von der Polizei eingekesselt. Insgesamt 13 Stunden lang werden sie festgehalten, nicht mal der Gang zur Toilette wird ihnen erlaubt. Später wird dieser Einsatz vom Hamburger Verwaltungsgericht als vollkommen rechtswidrig bezeichnet, den Betroffenen ein Schadensersatz von 200 DM zugesprochen.
Das AKW Brokdorf ist fast fertig gebaut. Die Auseinandersetzungen über den Umgang mit der Atomenergie haben inzwischen dazu geführt, dass die Bundesregierung ein Umweltministerium eingerichtet hat. Walter Wallmann (CDU) wird erster Umweltminister. Er kündigt eine Sicherheitsüberprüfung der deutschen Reaktoren an. Einziges Ergebnis ist das so genannte „Wallmann-Ventil“. Um im Fall eines schweren Unfalls in einem Reaktor zu verhindern, dass – wie in Tschernobyl – das Reaktorgebäude aufplatzt, werden „Sicherheitsventile“ eingebaut, mit denen im Krisenfall der Druck im Inneren abgelassen werden kann. Dann gibt es grünes Licht für die deutschen AKWs – und für die Inbetriebnahme von Brokdorf. Am 8. Oktober 1986 kann Brokdorf nach einer Bauzeit von rund 10 Jahren als weltweit erstes Atomkraftwerk nach Tschernobyl ans Netz gehen.
1986 – Der Bauzaun wird zum Betriebszaun
Trotz Tschernobyl geht Brokdorf in Betrieb
Während sich die Auseinandersetzungen in Brokdorf nun immer mehr verlagern und sicherheitstechnische und rechtliche Fragen, die mit dem Betrieb des Reaktors zusammenhängen und Gegenstand der politischen Debatten werden, kommt es gesellschaftlich doch zu einem gravierenden politischen Wandel.
Tschernobyl hat Folgen: Die SPD fordert jetzt einen Atomausstieg innerhalb von zehn Jahren und macht damit eine Kehrtwende ihrer bisherigen Atompolitik. Auch einige Gewerkschaften folgen dieser Linie. In Schleswig-Holstein kommt es nach den Landtagswahlen 1988 zur ersten SPD-Regierung unter Björn Engholm. Günther Jansen wird Energieminister und propagiert die Stilllegung der drei AKWs Krümmel, Brunsbüttel und Brokdorf, die er innerhalb von zwei Legislaturperioden abschalten will.
Der neue Kurs der SPD führt zu einer verstärkten Politik der Sicherheitsüberprüfungen in den Reaktoren. Gemeinsam mit Aufsichtsbehörden in anderen (rot-grünen) Bundesländern beginnt eine Strategie der Nadelstiche. Höhere Sicherheitsanforderungen, genauere Prüfungen führen dazu, dass es immer wieder zu längeren Stillständen beim AKW Betrieb kommt. Die Atomlobby spricht von einem „ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug“ – SPD und Grüne von einem sicherheitsorientierten.
Doch die Politik bleibt widersprüchlich – auch in Schleswig-Holstein. Eine Klage gegen den Betrieb des AKW Brokdorf wird von der Landesregierung nicht unterstützt. Die Klage wollte u.a. erreichen, dass die erhöhten Strahlenwerte nach der Katastrophe von Tschernobyl für den Betrieb des AKW Brokdorf zu berücksichtigen wären. Durch den Betrieb des AKWs würden zusätzlich radioaktive Emissionen freigesetzt, die in der Summe nicht rechtmäßig wären. Doch ohne Unterstützung durch die Landesregierung scheiterte das Verfahren schließlich vor Gericht – aus formalen Gründen. Der Kläger, Karsten Hinrichsen, so das Gericht, hätte die Betriebsgenehmigung nur dann beklagen können, wenn er zuvor auch gegen die vierte Teilerrichtungsgenehmigung vorgegangen wäre. Ein Revision ließ das Gericht nicht zu. Hinrichsen klagte darauf hin um Zulassung dieser Revision.
Das Vorgehen der Landesregierung gegen Hinrichsen hat Folgen: Eine weitere Klage gegen die Dauerbetriebsgenehmigung des AKW Brokdorf wird angesichts des harten Kurses des Jansen-Ministeriums zurückgezogen. Zwei Kläger hatten darin beanstandet, dass es zu einem Sicherheitsabbau in Brokdorf gekommen sei, weil ungenügende Ausschlagsicherungen an sicherheitsrelevanten Kühlleitungen eingesetzt worden sind, weil ein erhöhtes Gefahrenpotential durch den Einsatz von Plutoniumbrennelementen (MOX) drohe und die Kompaktlagerung von Brennelementen zu gefährlich sei. Kaum war diese Klage zurückgenommen, kritisierten Mitarbeiter des Energieministeriums dies als Fehler. Angeblich habe man sich im Ministerium von dieser Klage ganz große Chancen für die Stilllegung von Brokdorf versprochen.
Die Landesregierung ändert ihren Kurs. Nachdem das Bundesverwaltungsgericht auf Klage von Karsten Hinrichsen die Revision zugelassen hat, tritt das Energieministerium nun als Unterstützung für Hinrichsen auf. Im April 1990 kommt es zur Verhandlung. Doch ohne Erfolg. Der Richter erklärt die Vorbelastung aus Tschernobyl für den Betrieb des AKW Brokdorf für nicht relevant. Damit ist die letzte Klage gegen die Dauerbetriebsgenehmigung von Brokdorf abgeschmettert.
Auch andere Konflikte um die Sicherheit des AKW Brokdorf brachten keinen Erfolg. Im August 1988 hatte Jansen die Wiederanfahrgenehmigung für das AKW nach der Revision verweigert. Als Grund für diese Entscheidung führte Jansen an, dass bei dem Brennelementewechsel ein gebrochener Zentrierstift gefunden worden sei. Die Zentrierstifte, von denen in Brokdorf rund 360 vorhandenen sind, sollen den sicheren Abstand der Brennelemente voneinander gewährleisten. Außerdem waren drei Abstandshalterungen von den Brennelementen abgerissen, die irgendwo im Reaktorbecken herumschwammen. Jansen hatte angeordnet, dass sämtliche Zentrierstifte in Brokdorf mit Ultraschall untersucht werden sollten.
Die Betreiberin des AKW, die PreußenElektra teilte darauf hin jedoch mit, dass weder geeignetes Gerät zum Ausbau der Stifte, noch ein Verfahren zur Ultraschallüberprüfung des Materials vorhanden seien.
Obwohl ein TÜV-Gutachten die Sicherheit des AKWs trotz der Mängel nicht gefährdet sah, entschloss sich Jansen, den Reaktor nicht wieder ans Netz gehen zu lassen und teilte dies Bundesumweltminister Klaus Töpfer mit. In dem Schreiben an Töpfer forderte er ihn auf, die Inbetriebnahme des AKWs ggfls. anzuweisen. Wörtlich hieß es: „Deshalb erbitte ich Ihre bundesaufsichtliche Stellungnahme beziehungsweise Weisung.“
Nach knapp zwei Wochen ging der Reaktor dann mit Töpfers Weisung wieder in Betrieb.
Dabei hätte Jansen Brokdorf erheblich länger abgeschaltet lassen können. In der zweiten Teilgenehmigung vom 3. Oktober 1986 hatte die damalige CDU-Energieministerin den AKW-Betreibern vorgeschrieben, dass „spätestens zwei Monate vor dem ersten Brennelemente-Wechsel … ein Konzept vorzulegen ist, aus dem hervorgeht, wie in Zukunft für die Kernbauteile, Steuerelemente, Neutronenquellen und die Kerninstrumentierung die Notwendigkeit eines Austauschs rechtzeitig festgestellt werden kann.“ Diese Forderung hatten die Betreiber jedoch nicht erfüllt.
Erfolglose Klagen, die immer kompliziertes Know-How und Expertenwissen erforderten und die mit imensen Kostenrisiken für die Kläger verbunden waren, führten schließlich dazu, dass die Auseinandersetzungen um den Betrieb des AKW Brokdorf weitgehend zum Erliegen kamen. Nur noch in Einzelfällen kam es zu sicherheitsorientierten Auseinandersetzungen. Lediglich ein Mal im Monat, in Gedenken auch an die Atombombe von Hiroshima an jedem 6ten, trafen (und treffen) sich eine Handvoll AtomkraftgegnerInnen zur Mahnwache vor der Toreinfahrt.
Stilllegung wegen ungelöster Entsorgung? Nein danke
Immer wieder versuchten AtomkraftgegnerInnen in den 90er Jahren über die vollkommen ungelöste Entsorgung der Atomreaktoren, eine Stilllegung der AKW zu erreichen. In den Betriebsgenehmigungen war (s.o.) vorgeschrieben, dass es einen Nachweis der Entsorgung für den anfallenden hochradioaktiven Atommüll in Form der bestrahlten Brennelemente geben muss. Jeweils für sechs Jahre im Voraus mussten die Betreiber diesen Nachweis erbringen. Politisch hatte die Bundesregierung eine mehr als nur abenteuerliche Konstruktion für diesen so genannten Entsorgungsvorsorgenachweis zugelassen: Einerseits waren „Fortschritte“ bei der Erkundung der Endlagerforschung im Salzstock Gorleben darzulegen. Andererseits galt bis zur Fertigstellung eines Endlagers die Wiederaufarbeitung der bestrahlten Brennelemente in Frankreich und England als Nachweis für eine „sichere Verwahrung“ des Atommülls.
Angesichts des absoluten Atomülldesasters waren bereits in den 80er Jahren in Gorleben und in Ahaus so genannte Zwischenlager errichtet worden. Darin sollte der Atommüll aus der Wiederaufarbeitung, aber auch aus anderen Atom(forschungs)anlagen bis zur Inbetriebnahme eines Endlagers zwischengelagert werden.
Um nicht allein von der Wiederaufarbeitung im Ausland abhängig zu sein, hatte die Bundesregierung den Bau einer deutschen WAA in Wackersdorf seit Anfang der 80er Jahre vorangetrieben. Der heftige Widerstand in Bayern – bei dem auch zwei Menschen starben – sowie die Kosten für diese Anlage führten aber schließlich im Mai 1989 dazu, dass die Pläne aufgegeben wurden.
Der heftige Widerstand im Wendland und zahlreiche juristische Auseinandersetzungen sorgten dafür, dass es erst 1995 zu ersten Atommülleinlagerungen im Zwischenlager Gorleben kam. In diesem Jahr wurde auch die Erweiterung des Lagers genehmigt und außerdem durften nunmehr auch die Abfälle aus der WAA eingelagert werden.
Plutoniumträume, Atomtransporte, Wiederaufarbeitung
Die Anti-Atom-Bewegung kritisierte die WAA von Anfang an scharf. Nicht nur, weil die Abtrennung von Plutonium mit Entsorgung im Grunde nichts zu tun hatte, sondern auch weil diese Anlagen in La Hague (Frankreich) und Sellafield/Windscale (England) überaus gefährlich waren. In der gesamten Nordsee kann aufgrund der hohen Ableitungen aus diesen Anlagen Plutonium nachgewiesen werden, die Belastung in Strandnähe überschreitet nach Angaben von Greenpeace sogar die Grenzwerte. Außerdem würde mit der Herstellung von Plutonium auch mit Blick auf Atomwaffen ein enormes Gefährdungspotential entstehen.
Kritische Wissenschaftler weisen nach, dass die beiden WAAs nach deutschem Atomrecht niemals genehmigungsfähig wären, weil viel zu hohe Emissionen erlaubt seien. Daher dürfe nach deutschem Recht auch kein Export der Brennelemente stattfinden. Hinzu kommt, dass die Kosten der Wiederaufarbeitung extrem hoch sind – deshalb war die WAA Wackersdorf aufgegeben worden.
Schritt für Schritt waren die Plutoniumträume der Atomlobby und großer Teile der Politik zusammen gebrochen. Die Idee der Atomwirtschaft war es, Energie ohne Ende erzeugen zu können. Im Reaktorbetrieb entstand in den Uran-Brennelementen Plutonium. Dieses sollte in der WAA separiert und zu neuen Brennelementen verarbeitet werden. Grenzenlose Energie, so die Phantasie. In einem speziellen Reaktor – dem sogenannten Schnellen Brüter in Kalkar – sollte die Plutoniumproduktion für diese Strategie stattfinden. Nach der WAA sollte das Plutonium dann in Hanau von Siemens zu sogenannten Mischoxid-Brennelementen (MOX, Uran und Plutonium) verarbeitet und anschließend wieder in den Reaktor zur Stromproduktion gehen. Doch gegenüber der Verarbeitung von Uran ist Plutonium um ein Vielfaches gefährlicher und erfordert daher erheblich höhere Sicherheitsmaßnahmen. Das hat enorme Kosten zur Folge.
Der Druck der Anti-AKW-Bewegung und das Umschwenken der SPD nach Tschernobyl, aber auch die Grünen, die inzwischen in vielen Landtagen und Landesregierungen beteiligt sind, führt schließlich zum Ende einer deutschen Plutoniumindustrie. In Hessen wird die MOX-Anlage dicht gemacht, der Schnelle Brüter in Kalkar – obwohl fertig gebaut – wird 1991 endgültig beerdigt.
Als 1996 erstmals hochradioaktiver Atommüll aus der französischen WAA in La Hague in das Atommülllager nach Gorleben transportiert wird, kommt es zu ersten großen Demonstrationen im Wendland.
Die Castortransporte werden in der Folge zum Politikum und zum Aktionsort! Nicht nur die Transporte nach Gorleben, sondern auch die zahlreichen Castortransporte von den AKWs zur Wiederaufarbeitung werden von der Anti-AKW-Bewegung zum Anlass genommen, die ungelöste Entsorgung zur Achillesferse für den Betrieb der AKWs zu machen. Castoren heißen die Behälter, in denen die bestrahlten und hochradioaktiven Brennelemente aus den AKWs zur Wiederaufarbeitung transportiert werden. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre kommt es an vielen AKWs und entlang der Transportstrecken zu den Wiederaufarbeitungsanlagen zu zahlreichen Aktionen und Demonstrationen. In Brokdorf ebenso wie am benachbarten AKW Brunsbüttel oder im AKW Krümmel, östlich von Hamburg. Rund um Hamburg finden Blockaden statt.
Ausstiegs-Konsens, WAA Verbot und neue Atomlager
Im Jahr 1998 tritt erstmals eine rot-grüne Bundesregierung in Berlin an, die sich den Atomausstieg auf die Fahnen geschrieben hat. Doch sie macht nicht die bis dato ungelöste Entsorgung zum Ansatz für die möglichst schnelle Abschaltung der Reaktoren. Um Schadensersatzklagen zu vermeiden, setzt Rot-Grün auf Verhandlungen und Konsens mit der Atomwirtschaft. Das Ergebnis sind Restlaufzeiten. Schritt für Schritt sollen die AKWs über einen Zeitraum von rund 20 Jahren nach dem Ende ihrer Restlaufzeit abgeschaltet werden. Dabei unterstellen die Verhandlungspartner eine durchschnittliche Laufzeit von rund 32 Jahren je Reaktor. Ehemals waren die AKWs auf eine Betriebsdauer von 20 – 25 Jahren ausgelegt. Kein Wunder, dass die Anti-Atombewegung den Slogan prägte: „Konsens ist Nonsens“. Für das AKW Brokdorf hätte das einen Weiterbetrieb bis zum Jahr 2036 bedeuten können!
Parallel legt die rot-grüne Bundesregierung das „Erneuerbare Energien Gesetz“ vor, mit dem der massive Ausbau der regenerativen Energie in Fahrt kommt.
In dem Verhandlungsergebnis mit der Atomindustrie wird auch die Beendigung der Wiederaufarbeitung im Ausland bis zum Jahr 2005 verabredet. Doch nicht die Abschaltung der Atomreaktoren ist die Folge, sondern an fast allen AKW-Standorten sollen neue Zwischenlager entstehen, in denen künftig die verbrauchten Brennelemente in Castorbehältern verpackt für eine Dauer von bis zu 40 Jahren gelagert werden dürfen.
Entsprechend stellt der Betreiber von Brokdorf, der inzwischen nicht mehr PreußenElektra sondern E.on heißt, Ende 1999 den Bauantrag, im Frühjahr 2001 werden die Antragsunterlagen öffentlich ausgelegt. Rund 1.700 Menschen legen Widerspruch gegen diese Pläne ein.
Dennoch: Im November 2003 erteilt das Bundesamt für Strahlenschutz die Genehmigung für den Bau. Am 5. März 2007 wird der erste Castorbehälter eingelagert. Insgesamt umfasst die Genehmigung die Einlagerung von bis zu 100 Behältern für abgebrannte hochradioaktive Uran- und MOX-Brennelemente. Die dafür vorgesehene Betonhalle auf dem Kraftwerksgelände ist 94 Meter lang, 27 Meter breit und 23 Meter hoch.
Und: Trotz der Ereignisse um die Terrorangriffe gegen die Türme des World-Trade-Centers und auf das US-Verteidigungsministeriums in Washington im September 2001, werden diese Zwischenlager ohne jede Sicherung gegen Flugzeugabstürze gebaut. Dabei war inzwischen bekannt, dass die Angreifer auf das WTC während der Planung zunächst auch einen Anschlag auf ein Atomkraftwerk vorgesehen hatten. In der Folge war in Deutschland die Forderung erhoben worden, die AKWs gegen gezielte Angriffe mit Flugzeugen abzusichern. Sollte dies nicht gehen, müssten die Anlagen abgeschaltet werden. Doch die rot-grüne Bundesregierung handelte nicht.
Während an einigen AKWs Versuche mit Vernebelungsmaschinen gestartet wurden, konnten an fast allen Standorten neue Atommülllager in Betrieb gehen, ohne baulich gegen Terrorangriffe gesichert zu werden. So auch in Brokdorf. Erst Mitte 2011 kam das Thema wieder auf die Tagesordnung. Klammheimlich wurden die AKW-Betreiber angewiesen, den Schutz vor Terroranschlägen bei den Standortlagern zu verbessern. Allerdings nicht gegen Flugzeugabstürze! Lediglich mit zusätzlichen Mauern soll der Schutz vor Angriffen von der Straße aus erschwert werden.
Laufzeitverlängerung – die Anti-Atom-Bewegung ist wieder da!
Für Viele ist nach dem rot-grünen Atomkonsens die Frage der Atomenergie geregelt. Trotz massiver Sicherheitsprobleme und weiterhin ungelöster Entsorgung, flaut der Anti-Atom-Widerstand bundesweit ab. Das ändert sich, als im Jahr 2007/8 die CDU, die FDP und die Atomwirtschaft ankündigen, mit der Bundestagswahl 2009 den Ausstieg aus dem Ausstieg organisieren zu wollen und die Laufzeiten der AKWs wieder verlängern wollen. Die Atomlobby versucht, längere AKW-Laufzeiten mit dem Klimaschutz zu begründen und hofft, damit die fehlende Akzeptanz für die Atomenergie zurück zu gewinnen. Wenig erfolgreich, wie sich über die Jahre hinweg zeigt. In nahezu allen Meinungsumfragen spricht sich weiterhin eine Mehrheit gegen die weitere Atomenergienutzung aus.
Die Absicht der Atomlobby mobilisiert die Anti-Atom-Bewegung. Schon bei den Castortransporten im November 2008 ist dies deutlich spürbar. Weit über 15.000 Menschen beteiligen sich an der Demonstration in Gorleben. Überall in der Republik regen sich wieder Initiativen. Zu den Bundestagswahlen im September 2009 rufen zahlreiche Organisation schließlich zu einem neuen Anti-Atom-Treck auf. Hunderte von Treckern aus dem Wendland brechen auf und werden schließlich am 6. September auf einer Großdemonstration unter dem Motto „Mal richtig abschalten“ in Berlin von 50.000 Menschen empfangen.
Die Auseinandersetzung um die Atomenergie wird heftig geführt, bestimmt über Monate den Bundestagswahlkampf. Am 27. September 2009 ergeben die Wahlen eine schwarz-gelbe Regierungsmehrheit. Der Weg zur Laufzeitverlängerung für die AKWs scheint frei. Aber: Die Wirklichkeit hat sich verändert, die Erneuerbaren Energien spielen eine wichtige Rolle für die künftige Energieversorgung. Zigtausend Arbeitsplätze sind in diesem Bereich entstanden. Die Entsorgung des Atommülls ist immer noch völlig ungelöst. Und die Anti-Atom-Bewegung ist aktiv wie nie zuvor! In fast allen größeren Städten gibt es wieder Anti-Atom-Initiativen.
Über ein Jahr dauern die Auseinandersetzungen in der Bundesregierung über ein Energiekonzept und die Frage, um wieviele Jahre die AKWs länger am Netz bleiben dürfen. Erst im Oktober 2010 beschließt die Bundesregierung über längere Laufzeiten.
Dirk Seifert und Kai von Appen*, August 2011
*Der Artikel basiert auf einem Text von Kai von Appen, der die Ereignisse vom Baubeginn bis zur Inbetriebnahme des AKWs geschrieben hat. Dieser Teil ist am 28. Oktober 2006 anlässlich des 10. Jahrestages der Inbetriebnahme von Brokdorf in der Taz publiziert worden, unter Mitarbeit von Fritz Storim und Uwe Zabel. Allerdings sind in diesem Teil einige fachliche Passagen eingefügt worden. Der Textteil von der Inbetriebnahme bis zum Herbst 2010 ist ausschließlich von Dirk Seifert.