DIW legt Studie vor: Atomenergie ist nicht nachhaltig und zukunftungsfähig – Es braucht Klima- und Plutoniumneutralität!
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat in seinem aktuellen Wochenbericht die Atomenergie ausführlich unter die Lupe genommen und kommt aus wirtschaftlichen und technischen Gründen dazu, dass diese Risikotechnologie nicht zukunftsfähig ist. Dabei warnen die Wissenschaftler:innen nicht nur mit Blick auf die Legende vom billigen Atomstrom. Von Anfang an habe man die Kosten und Umweltprobleme der Atomenergie immer wieder unterschätzt oder verharmlost. Neben der Klimaneuträlität, die alle zukunftsfähigen Energietechniken sicherstellen müssen, müsste immer auch Plutoniumneutralität garantiert werden. Allzu leicht könnte Plutonium für den Bau und Einsatz von Atomwaffen mißbraucht werden. Atomstromerzeugung ist nicht nur nur teuer und im Fall von Unfällen mit schweren Schäden für Mensch und Umwelt verbunden. Auch das Problem der Endlagerung bleibt ungelöst. Auch kurzfristig gibt es keinen Grund für eine nukleare Laufzeitverlängerung, so Hirschhausen und Kemfert vom DIW. Die letzten drei Atomkraftwerke können Mitte April ohne Probleme für die Stromerzeugung abgeschaltet werden.
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Über die Veranstaltung und die Teilnehmer:innen informierte das DIW hier. Das Video der Veranstaltung ist bei Youtube online. An der Diskussion nahmen Wolfram König, (Bundesamt für die Sicherheit der kerntechnischen Entsorgung, Base); Judith Skudelny, (FDP-Bundestagsfraktion); Georg Zachmann, (Bruegel), Claudia Kemfert, (DIW), Christian von Hirschhausen, (DIW) und Petra Jasper (Moderation) teil.
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UmweltFAIRaendern dokumentiert:
- DIW Wochenbericht 10 / 2023, S. 122, Christian von Hirschhausen, Erich Wittenberg, Download (PDF 77 KB), siehe auch hier direkt (PDF).
- Gesamtausgabe/ Whole Issue (PDF 2.48 MB – barrierefrei / universal access), siehe auch hier direkt (PDF).
Dokumentation der Pressemitteilung vom 7. März 2023 vom DIW:
DIW Wochenbericht beleuchtet Perspektiven der Atomenergie in Deutschland und weltweit – Laufende und geplante Projekte entbehren technischer und ökonomischer Grundlagen – Umdenken bei Modellierung von künftigem Energiemix – Erneuerbare Energien stärker in Fokus, Nukleartechnik geht zurück – Vertiefte Forschung in Atomenergie nicht sinnvoll – Endlagersuche sollte forciert werden
Die letzten drei deutschen Kernkraftwerke „Emsland“, „Isar-2“ und „Neckarwestheim-2“ gehen am 15. April vom Netz. Angesichts der Energie- und Klimakrise werden aber nicht nur in Deutschland zunehmend Stimmen laut, die Atomforschung voranzutreiben. Alle derzeit diskutierten neuen Kernkraftprojekte sind aber ökonomisch und technisch weder zukunftsfähig noch sinnvoll. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse von Wissenschaftler*innen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). „Atomenergie war, ist und bleibt technologisch riskant und unrentabel. Daran ändern auch angeblich innovative Reaktorkonzepte nichts, die in Wirklichkeit ihren Ursprung in der Frühzeit der Atomenergie in den 1950/60er Jahren haben“, erläutert Christian von Hirschhausen, Forschungsdirekter der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt im DIW Berlin. Daher könne Atomenergie auch keinen kostengünstigen und zeitnahen Beitrag zum Klimaschutz leisten oder die Stromversorgung sichern. „Neben der Klimaneutralität brauchen wir auch eine Plutoniumneutralität, weil es nicht nur darum geht, CO2 zu reduzieren, sondern auch das gefährliche, langlebige Plutonium in den radioaktiven Abfällen.“
© DIW Berlin
Innovative Atomkonzepte mit alter, nicht bewährter Technologie?
Die DIW-Forscher*innen nehmen drei Reaktorkonzepte unter die Lupe, die aktuell die internationale Atomdebatte bestimmen: Leichtwasserreaktoren, SMR („Small Modular Reactors“) und schnelle Brüter. Kernkraftwerke der dritten Generation, Leichtwasserreaktoren mit einer elektrischen Leistung von 600 bis 1600 Megawatt, basieren auf einer Technologie der 1980er Jahre und werden noch heute gebaut. Als problematisch erweisen sich jedoch überbordende Kosten und Bauverzögerungen, wie sie seit ihrer Entwicklung in besonders eklatanter Weise in den USA und Europa beobachtet wurden.
Befürworter*innen von Kernkraftwerksneubauten sehen insbesondere SMR als Hoffnungsträger, wie sie unter anderem von Microsoft-Gründer Bill Gates propagiert werden. Es handelt sich um Leichtwasserreaktoren mit einer Kapazität in der Regel bis zu 300 Megawatt. Sie sind den Studienautor*innen zufolge allerdings keineswegs innovativ, sondern gehen auf die 1950er Jahre zurück, als Atomkraft als Antriebstechnologie für Militär-U-Boote nutzbar gemacht wurde. Bereits damals konnte sich die Technik wegen Kostennachteilen gegenüber leistungsfähigeren Reaktoren nicht durchsetzen. Heute gibt es einige Pilotprojekte, etwa in den USA, Kanada und Großbritannien, die jedoch Modellrechnungen zufolge wesentlich teurer werden dürften als herkömmliche Reaktoren. Noch dazu ist die Marktnachfrage gering. Trotz jahrzehntelanger Forschung konnte kaum ein Kernkraftwerk des Typs SMR den kommerziellen Leistungsbetrieb aufnehmen. Insbesondere besteht aber keine Perspektive, die erheblichen Größennachteile durch Massenproduktion wettzumachen. Hierfür wäre bei optimistischer Betrachtung der Bau von mehreren Tausend baugleichen Kernkraftwerken notwendig.
„Technisch sind bei Atomenergie keine signifikanten Durchbrüche absehbar.“ Claudia Kemfert
Auch schnelle Brüter und andere nicht leichtwassergekühlte Reaktoren sind auf absehbare Zeit nicht wettbewerbsfähig, wie die DIW-Forscher*innen in ihrer Studie aufzeigen. Die Technik stammt ebenfalls aus dem vergangenen Jahrhundert, die meisten angeschobenen Projekte wurden wegen sicherheitstechnischer Mängel und fehlender wirtschaftlicher Perspektiven gestoppt, so unter anderem der schnelle Brüter im nordrhein-westfälischen Kalkar, der niemals in Betrieb ging und heute zu einem Freizeitpark umgebaut wurde. Da bei schnellen Brütern viel spaltbares Material entsteht, gibt es auch ein größeres Proliferationsrisiko, also die Gefahr der Weitergabe zu Atomwaffenzwecken.
Erneuerbare um ein Vielfaches günstiger als Atomenergie
„Technisch sind bei der Atomenergie keine signifikanten Durchbrüche absehbar“, bilanziert Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt im DIW Berlin. „Atomkraft ist zudem die mit Abstand teuerste Energie – und bei Weitem teurer als Erneuerbare.“ Diese Erkenntnis habe sich inzwischen auch bei der Modellierung von Energiesystemen durchgesetzt. Während zuvor aufgrund überoptimistischer Annahmen immer ein wesentlicher Anteil an Atomenergie angenommen worden sei, richte sich der Fokus nun immer stärker auf Erneuerbare und weg von Kernkraft.
Staatlich geförderte Forschung sollte sich künftig auf die Bereiche konzentrieren, von denen substanzielle Beiträge zur Energiewende zu erwarten sind“, empfiehlt Kemfert. „Dies sind etwa erneuerbare Energien oder Speichermöglichkeiten und andere Flexibilitätsoptionen, Atomkraft gehört definitiv nicht dazu. Die Bundesregierung sollte auch davon absehen, mit Atomkraft erzeugter Energie ein grünes Label anzuhängen, wie es derzeit beim Wasserstoff diskutiert wird. Stattdessen sollte mit Hochdruck nach sicheren Zwischenlagern und einem Endlager gesucht werden, um das Atomkapitel endgültig abzuschließen.“
Links
- Studie im DIW Wochenbericht 10/2023
- Infografik in hoher Auflösung (JPG, 0.67 MB)
- Interview mit Studienautor Christian von Hirschhausen
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Brauchen wir neue Atomkraftwerke? : Nachgeforscht bei Christian von Hirschhausen
Themen: Energiewirtschaft , Industrie , Klimapolitik
Pressesprecherin und stellvertretende Abteilungsleitung in der Abteilung Kommunikation
Dokumentation Nr. 2 des DIW Wochenberichts
- Studie untersucht Rentabilität und technologische Umsetzbarkeit von Reaktorkonzepten weltweit
- Trotz bevorstehenden Atomaustiegs auch in Deutschland Debatte über neue Reaktorkonzepte
- Bestehende und geplante Kraftwerksprojekte sind unwirtschaftlich, auch technischer Durchbruch nicht zu erwarten
- Umdenken in Energiesystemanalyse zugunsten erneuerbarer Energien weg von Atomenergie
- Forderungen in Deutschland nach Forschungsförderung für den Neubau von Kernkrafwerken sind Irrweg
Abstractkeyboard_arrow_up
Am 15. April 2023 werden in Deutschland die letzten drei Kernkraftwerke abgeschaltet: „Emsland“ in Niedersachsen, „Isar-2“ in Bayern und „Neckarwestheim-2“ in Baden-Württemberg. Damit endet die Ära der kommerziellen Nutzung von Atomenergie in Deutschland. Im Fokus stehen nun der Rückbau von Kernkraftwerken sowie die Suche nach sicheren Zwischenlagern und einem Endlager für radioaktive Abfälle. Die in Deutschland und weltweit mit der Entwicklung kommerzieller Kernkraftwerke seit den 1950er Jahren verbundene Hoffnung, einen kostengünstigen und technologisch innovativen Energieträger zu entwickeln, hat sich nicht bewahrheitet. Vielmehr ist die ursprüngliche Idee zur Entwicklung einer Plutoniumwirtschaft, also der Herstellung einer fast unbegrenzten Menge kostengünstigen Spaltstoffs durch einen geschlossenen Brennstoffkreislauf, gescheitert. Im Gegenteil ist Strom aus Kernkraftwerken mit Abstand der teuerste – und das seit Beginn des Atomzeitalters in den 1950er Jahren bis heute. Die Atomenergie war und ist nicht wettbewerbsfähig gegenüber alternativen Stromerzeugungstechnologien (früher Kohle, heute erneuerbaren Energien). Ökonomische Fragen des Rückbaus sind ungeklärt. Weltweit ist noch kein einziges Endlager für hochradioaktive Abfälle in Betrieb.
Dennoch wird die Entwicklung sogenannter neuartiger Kernreaktoren und der damit verbundene Neubau von Kernkraftwerken in einigen Ländern lebhaft diskutiert. Insbesondere in den offiziellen Atommächten (USA, Russland, China, Frankreich, Vereinigtes Königreich), aber auch in einigen wenigen Ländern, die erst jetzt einen Einstieg in die Atomenergie planen (Türkei, Ägypten, Bangladesch) oder gerade vollzogen haben (Belarus, Vereinigte Arabische Emirate), ist die Debatte im Gang.
In Europa hat die Aufnahme von Atomenergie in die EU-Taxonomie Möglichkeiten eröffnet, Neubauprojekte noch stärker als bisher zu subventionieren. Begründet wird dies mit Nachhaltigkeitsaspekten, was allerdings unter Expert*innen höchst umstritten ist. Auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern werden derzeit in Politik und Gesellschaft Forderungen laut, als längerfristige Lösung im Rahmen der Energiewende neue Kernkraftwerke zu bauen und die hierfür notwendigen Forschungsbemühungen zu verstärken. Allerdings hat die deutsche Energiewirtschaft selbst dieser Perspektive bisher eine klare Absage erteilt. Unklar ist vor allem, welche Technologien für die Weiterentwicklung von Atomenergie überhaupt zur Verfügung stünden und wie diese in absehbarer Zeit wettbewerbsfähig werden sollten.
Inhaltsverzeichnis
Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung geht weltweit zurück
Weltweit ist der Ausbau von Kernkraftwerken nach dem Bauboom der 1970/80er Jahre weitgehend zum Erliegen gekommen. Die Produktion von Strom aus Kernkraftwerken liegt seit den späten 1990er Jahren auf einem unveränderten Niveau von circa 2600 Terawattstunden (TWh) pro Jahr. Ihr Anteil an der gesamten Stromerzeugung sinkt jedoch: Seit dem historisch höchsten Anteil an der weltweiten Stromproduktion von 17,6 Prozent im Jahr 1996 geht dieser stetig zurück und lag 2021 erstmals seit Jahrzehnten unter zehn Prozent (Abbildung 1). Der Anteil erneuerbarer Energien steigt dagegen stetig an.
Modellrechnungkeyboard_arrow_up
Die Möglichkeit, Kernkraftwerke mit geringer Leistung zu bauen, ist seit den 1950er Jahren bekannt und stellt daher keine Innovation dar. Im Gegenteil: Der erste in den USA entwickelte SMR-Reaktor war ein für die US-Marine entwickelter Leichtwasserreaktor für den U-Boot-Einsatz. Nach seinem Einbau in das erste kommerzielle Kernkraftwerk in Shippingport, Pennsylvania, 1957 führte er zum Siegeszug der Leichtwasser-Technologie. Jedoch wurden diese Reaktoren mit geringen Leistungen lediglich als Ausgangspunkt genommen, um rasch zum Bau von größer dimensionierten Kraftwerken mit höheren Leistungen überzugehen. Die Suche nach Größenvorteilen führte in der Folgezeit dazu, dass die durchschnittliche elektrische Leistung von Kernkraftwerken bereits in den 1970er Jahren auf 500 MW stieg; heute liegt sie über 1000 MW (Abbildung 2).
Trotz jahrzehntelanger Forschung konnte kaum ein Kernkraftwerk der Kategorie SMR den kommerziellen Leistungsbetrieb aufnehmen. Vielmehr zeichneten sich die Versuche – wie auch bei Kernkraftwerken größerer Leistungsklassen – durch lange Entwicklungsphasen, kurze Betriebsphasen und sehr lange Rückbauphasen aus (Abbildung 3). Viele der historischen SMR-Reaktoren sind bis heute nicht endgültig entsorgt.
Tabelle: Historische Beispiele für Reaktoren mit schnellem Neutronenspektrum („Schnelle Brüter“)
Bau- und Betriebszeiten
Reaktorkonzept | Land | Leistung (MWth) | Baubeginn | Betrieb | Stilllegung | Noch aktiv (?) | Durchschnittliche Kapazitätsauslastung |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Experimentalreaktoren | |||||||
Rhapsodie | Frankreich | 40 | 1962 | 1967 | 1983 | Keine Angaben | |
KNK-II | Deutschland | 52 | 1975 | 1977 | 1991 | 17,10 Prozent | |
DFR | Großbritannien | 60 | 1954 | 1959 | 1977 | 33,80 Prozent | |
FBTR | Indien | 40 | 1972 | 1985 | 2022 | Keine Angaben | |
PEC | Italien | 120 | 1974 | 2022 | 2022 | Keine Angaben | |
JOYO | Japan | 140 | 1970 | 1977 | 2007 | Keine Angaben | |
BR-10 | Sowjetunion/Russland | 55 | 1956 | 1959 | 2002 | Keine Angaben | |
BOR-60 | Sowjetunion/Russland | 9 | 1958 | 1964 | 2022 | Keine Angaben | |
EBR-I | USA | 1,2 | 1947 | 1951 | 1963 | Keine Angaben | |
EBR-II | USA | 62,5 | 1958 | 1963 | 1994 | Keine Angaben | |
Fermi | USA | 200 | 1956 | 1965 | 1972 | Keine Angaben | |
FFTF | USA | 400 | 1970 | 1980 | 1992 | Keine Angaben | |
CEFR | China | 65 | 2000 | 2010 | Keine Angaben | ||
Demonstratoren | |||||||
SNR-300 | Deutschland | 762 | 1973 | 1991 | Nie in Betrieb | ||
Phoenix | Frankreich | 563 | 1968 | 1973 | 1983 | Circa 50 Prozent | |
PFR | Vereinigtes Königreich | 650 | 1966 | 1974 | 1994 | 2022 | 7 Prozent |
PFBR | Indien | 1250 | 2003 | 2012 | 2016 | Keine Angaben | |
Monjou | Japan | 714 | 1985 | 1994 | 1999 | Von 1996 bis 2010 wegen Unfall außer Betrieb | |
BN-350 | Sowjetunion/Russland | 750 | 1964 | 1972 | 2022 | 85 Prozent | |
BN-600 | Sowjetunion/Russland | 1470 | 1967 | 1980 | 2022 | 74 Prozent (1982 bis 2009) | |
BN-800 | Russland | 2100 | 2006 | 2016 | 19831 | 71 Prozent | |
CRBRP | USA | unbekannt | 1982 | Nie in Betrieb |
1 Baubeginn 1983, keine Bautätigkeit zwischen 1986 bis 2006, dann Wiederaufnahme.
Quelle: Eigene Recherche.
Die Wettbewerbsfähigkeit dieser Reaktoren hängt von drei wesentlichen Parametern ab: dem Uranpreis, den Baukosten und den Entsorgungskosten. In keinem der drei Bereiche ist ein Kostenvorteil für die schnellen Reaktoren abzusehen. Eine Berechnung des Break-Even-Preises von Uran zeigt auf, bei welchem Preis der Betrieb eines hypothetischen schnellen Reaktors mit Wiederaufbereitung genauso teuer wäre wie ein Leichtwasserreaktor ohne Wiederaufbereitung. Überschlägige Berechnungen legen nahe, dass der Uranpreis um ein Vielfaches höher liegen müsste als jener, den man am Markt beobachten kann. Die Baukosten für den in den USA geplanten Piloten sind nicht absehbar, dürften aber wesentlich höher liegen als die der leichtwasserbasierten Technologielinie, die ihrerseits weit teurer ist als andere Energiequellen. Auch bei den Entsorgungskosten ist von dem Pilotprojekt kein Vorteil absehbar.
Umdenken in der Energiesystemmodellierung hat begonnen
Das geringe Potenzial der Atomwirtschaft zur Entwicklung von wettbewerbsfähigen Reaktorkonzepten wird inzwischen auch in Fachkreisen der Energiesystemmodellierung und integrierter Assessment Modelle (IAM) reflektiert. Diese hatten bisher teilweise sehr hohe Anteile an Atomenergie in Klimaschutzszenarien errechnet. So war bis vor Kurzem zu beobachten, dass Atomenergie als kohlenstoffarme Technologie Berücksichtigung in Klimaszenarien fand – und dies unabhängig von deren offensichtlich fehlenden Wettbewerbsfähigkeit. Im Mittel gehen Szenarien mit ansteigendem Anteil an Atomenergie davon aus, dass bis zum Jahr 2050 die jährliche weltweite Stromerzeugungsmenge aus Atomenergie etwa 5600 TWh beträgt – was mehr als einer Verdopplung der heutigen Stromerzeugung entspräche. Bei diesen Szenarien nahmen die Modellierer*innen bisher für Atomenergie niedrige Investitionskosten an. Gleichzeitig ging man für Erneuerbare aber von relativ hohen Kosten aus (insbesondere Solar) sowie von überhöhten Systemintegrationskosten für Erneuerbare bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Systemkosten der Atomenergie.
Jedoch hat in den Fachkreisen vor wenigen Jahren ein Umdenkprozess begonnen. Dieser führt dazu, dass sich das Energiemodellierungs-Paradox abschwächt und einer stärker an realwirtschaftlichen technischen Entwicklungen orientierten Modellierung und zugrundeliegenden Annahmen weicht. Dies zeichnet sich insbesondere durch aktualisierte Kostenannahmen für erneuerbare Energien, insbesondere für die Photovoltaik und die Kosten der Energiesystemintegration aus. Eine Vielzahl von Modellen identifiziert inzwischen nicht mehr Atomenergie, sondern erneuerbare Energien als den wesentlichen Treiber des zukünftigen Energiemix.
Vergleicht man die Energieszenarien des Berichts des Weltklimarats (IPCC) von 2018 mit dem im Jahr 2022, ist zu beobachten, dass die Anzahl von Szenarien mit einem starken Anstieg an Atomenergie (im Zeitraum zwischen 2020 und 2100) gesunken ist und sich der Anstieg an erneuerbaren Energien erhöht hat (Abbildung 5). Lag im Sonderbericht des IPCC zum 1,5-Grad-Ziel (2018) der Schwerpunkt noch bei zunehmenden Anteilen an Atomenergie (orange Punkte), so hat sich dieser im 6. Sachstandsbericht des IPCC (2022) in Richtung steigender Anteile Erneuerbarer und sinkender Anteile Atomenergie verschoben (grüne Punkte). Auch die Modellier*innen des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) weisen in einem kostenoptimalen Dekarbonisierungspfad darauf hin, dass Atomenergie in den nächsten Jahrzehnten weitgehend durch erneuerbare Energien ersetzt werden müsste.
Fazit: Atomenergieausbau technisch riskant und ökonomisch unrentabel – Schwerpunkt auf Entsorgung legen
Die Atomwirtschaft hat es in den vergangenen Jahrzehnten nicht geschafft, wettbewerbsfähige Reaktoren zu produzieren. Zudem führt die aktuelle Dynamik auf den Energiemärkten dazu, dass alte Kernkraftwerke zu Hunderten vom Netz genommen werden. In Deutschland, aber auch im übrigen Europa und weltweit steht dagegen ausreichend und kostengünstig erneuerbare Energie für ein klima- und plutoniumneutrales Energiesystem zur Verfügung.
Hoffnungen auf radikale Innovationen und die Ausbreitung von bisher nicht industriell erprobten Reaktorkonzepten erscheinen angesichts der Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte als unbegründet: Die Idee, Kernkraftwerke mit geringen Leistungen zu bauen, wurde bereits in den 1950er Jahren praktiziert und dann aufgrund struktureller Kostennachteile rasch aufgegeben; auch deshalb sind heute vom SMR Hype keine Verbesserungen zu erwarten. Versuche zur Wiederbelebung von bisher nicht durchgesetzten nicht leichtwassergekühlten Reaktoren werden zwar in einigen Ländern betrieben, dürften jedoch auch in den kommenden Jahrzehnten keinen industriellen Durchbruch zeigen. Deshalb sollten Bestrebungen nicht in die Erforschung angeblich neuer Reaktorkonzepte fließen, sondern sich auf die Herausforderungen des Rückbaus und der Lagerung radioaktiver Abfälle fokussieren. Die Atomwende, also die Abkehr vom System Atomenergie, ist erst dann gelungen, wenn die Hinterlassenschaften in Form von radioaktiven Abfällen möglichst sicher tiefengeologisch endgelagert sind.
Der Umdenkprozess in der Energiesystem- und integrierten Assessment-Modellierung spiegelt die geringen Perspektiven der Atomwirtschaft auf wettbewerbsfähige Reaktoren wider. Zwar teilten Expert*innen lange Zeit den Traum von der Plutoniumwirtschaft. Jedoch ist dieser Konsens in den vergangenen Jahren einer realistischeren Einschätzung von Technologie- und Kostenentwicklungen gewichen. Unter Berücksichtigung aktueller Trends und Daten bleibt Atomenergie den erneuerbaren Energien kostenmäßig weit unterlegen.
Aus der Analyse lassen sich folgende Implikationen ableiten: Die Politik sollte sich im Rahmen der Forschungsförderung künftig auf Bereiche konzentrieren, von denen substanzielle Beiträge zur Energiewende zu erwarten sind, wie erneuerbare Energien, Speicher und andere Flexibilitätsoptionen. Atomenergie gehört nicht dazu. Bemühungen, Energieproduktion aus Kernkraftwerken, zum Beispiel Wasserstoff, das Label „grün“ beziehungsweise „nachhaltig“ anzuhängen, sollte sie entschieden entgegentreten. Bei der Ausgestaltung des Stromsektordesigns in Deutschland und Europa sollten Lösungen abgelehnt werden, die auf die Subventionierung von Kernkraftwerken zielen (wie zum Beispiel in Frankreich und Polen).
Themen: Energiewirtschaft
JEL-Classification: L51;L94;Q48
Keywords: nuclear power, economics, technology, innovation, energy system analysis
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2023-10-1
3 Gedanken zu “DIW legt Studie vor: Atomenergie ist nicht nachhaltig und zukunftungsfähig – Es braucht Klima- und Plutoniumneutralität!”