10 Jahre Volksentscheid Unser Hamburg Unser Netz – Der Kampf um Energienetze in öffentlicher Hand
Zwischenstand, Teil 2 – Dirk Seifert: Der Kampf um die Energienetze in den Hamburg von der Volksinitiative bis zum Volksentscheid
Eigentlich schon Anfang 2010 nimmt die vollständige Übernahme der Hamburger Energienetze in die öffentliche Hand, die sogenannte Rekommunalisierung, ihren Anfang. Mitten in den Sommerferien sammelt die Volksinitiative „Unser Hamburg – Unser Netz“ innerhalb kürzester Zeit vom 05.07. bis zum 20.08.2010 weit über die erforderlichen 10.000 Stimmen für den Rückkauf der Energienetze für Strom, Gas und Fernwärme.
- Das Ziel der Volksinitiative: „Senat und Bürgerschaft unternehmen fristgerecht alle notwendigen und zulässigen Schritte, um die Hamburger Strom-, Fernwärme- und Gasleitungsnetze 2015 wieder vollständig in die Öffentliche Hand zu übernehmen. Verbindliches Ziel ist eine sozial gerechte, klimaverträgliche und demokratisch kontrollierte Energieversorgung aus erneuerbaren Energien.“ (Siehe die Homepage der Volksentscheids-Initiative: www.unser-netz-hamburg.de)
- Die Volksinitiative entstand 2009/2010 aus einem Bündnis von Umweltorganisationen und Bürgerinitiativen, sowie Vertreter:innen kirchlicher Einrichtungen und der Verbraucherzentrale. Im Verlauf wuchs das Bündnis auf über 50 Organisationen an, darunter auch Mieter-Vereine und Sozialverbände, sowie z.B. die Gewerkschaft GEW. Um die gesellschaftliche Breite des Bündnisses zu unterstreichen und damit auch zu zeigen, dass es vielfältige Argumente für die 100 prozentige Übernahme der Energienetze gibt, werden vom Bündnis Manfred Braasch für den BUND Hamburg, Theo Christiansen von der „Diakonie und Bildung des Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreises Hamburg-Ost“ und der damalige Chef der Verbraucherzentrale, Günther Hoermann zu den drei Vertrauenspersonen ernannt. So wird das vom Gesetz verlangt. Parteien durften sich unmittelbar nicht an der Initiative beteiligen. Dennoch unterstützen Grüne und Linke das Anliegen der Volksinitiative. Eine Liste der Unterstützer:innen ist hier online: https://unser-netz-hamburg.de/index.html@p=49.html
Damit läuft die Frist, in der sich die Bürgerschaft und der Senat nun amtlich zu dem Ansinnen der Volksinitiative verhalten müssen. (Siehe die Drucksache 19/7250 vom 14.9.2020 zur Feststellung des Senats über das Zustandekommen der Volksinitiative „Unser Hamburg – Unser Netz“
Drei Jahre lang wird eine intensive und nicht immer faire Diskussion um Demokratie, um Mitbestimmung, um die Energiewende und um notwendige Instrumente gegen die Klimakatastrophe stattfinden.
Ein Volksbegehren und einen Volksentscheid später, am 22. September 2013 haben sich die Bürger:innen gegen Mehrheiten im Senat und in der Bürgerschaft durchgesetzt: Die Konzerne Vattenfall und E.on müssen die Energienetze abgeben, sie werden künftig vollständig in öffentlicher Hand mit den genannten Zielsetzungen betrieben.
Konzessionsverträge als Weg
Möglich wird die Volksinitiative durch die sogenannten Konzessionsverträge: Alle 20 Jahre, so die gesetzlichen Regelungen, müssen die Verträge zum Betrieb der Energienetze in einem öffentlichen Verfahren neu ausgeschrieben werden. Diese Verträge regeln die Nutzung der öffentlichen Wege für Stromkabel, Gas- und Fernwärme-Rohre und -Leitungen. Diese Verträge für Strom- und Gasnetze und Wärme laufen in Hamburg nach dem Jahr 2014 aus und müssen in einem öffentlichen, EU-weiten Verfahren neu ausgeschrieben und vergeben werden.
Das ist der Hebel, mit dem die Volksinitiative „Unser Hamburg – Unser Netz“ für die Rekommunalisierung an den Start gehen kann: Denn bei einer öffentlichen Ausschreibung kann sich auch die Stadt Hamburg bewerben und den jeweiligen Netzbetrieb übernehmen. Damit würden die bisherigen Netzbetreiber Vattenfall und E.on am Ende des Verfahrens „ohne Betriebserlaubnis“ dastehen. Einzige Alternative wäre dann für die alten Besitzer der Konzessionen: Verkauf der Netz-Gesellschaften an den neuen Konzessionsinhaber Hamburger.
Betroffen von der Rekommunalisierung ist vor allem Vattenfall. Neben dem bedeutsamen Stromnetz ist die Fernwärme ein überaus wichtiges Geschäftsfeld. Denn hier geht es nicht nur um die Verteilung der erzeugten Wärme-Energie an die Kund:innen. In den Fernwärme-Kraftwerken Tiefstack und Wedel wird zusätzlich auch Strom erzeugt und verkauft, was die wirtschaftliche Vorteile dieser Energiesparte deutlich erhöht. Außerdem übernimmt Hamburg anders als beim Strom- und Gasnetz auch die jeweiligen Abnehmer:innen, also die Wärmekund:innen. Demgegenüber ist E.on mit dem drohenden Verlust des kleineren Gasnetzes weniger stark betroffen.
Die Folge: Die Auseinandersetzungen zwischen den Befürworter und Gegnern des Rückkaufs werden schärfer und schärfer.
- Nicht nur in Hamburg, auch in vielen anderen Städten starten in dieser Zeit Bemühungen zur Rekommunalisierung von Energienetzen. Vattenfall ist auch in Berlin mit einem starken Bündnis konfrontiert, welches vom Berliner Senat die Übernahme der Netze fordert. Den Volksentscheid in Berlin, der nicht mit dem Termin der Bundestagswahl am 22. September 2013 gekoppelt wird, sondern etwas später stattfindet, verliert die Initiative aber leider knapp.
Die SPD-Spitze ist gegen den vollständigen Rückkauf der Netze
Schon im Vorfeld hatte sich gezeigt: Die Erwartung der Initiatoren, dass sich neben den Bürgerschaftsfraktionen von Grünen und Linken auch die SPD (und die für die Hamburger Energiewirtschaft zuständigen Gewerkschaften IG Metall und Verdi (Versorgung) der Initiative anschließen, erfüllten sich nicht.
Dabei sprechen SPD und Gewerkschaften in ihren Programmen vielfach davon, dass gesellschaftlich elementare Handlungsfelder wie die Energieversorgung oder auch Gesundheit, Wasser etc. zur sogenannten Daseinsvorsorge, zum Gemeinwohl gehören. Privates Gewinnstreben darf bei solch wichtigen Grundsatzbereichen nicht im Vordergrund stehen, heißt es. Daher gehört Energieversorgung in die öffentliche Hand. (Siehe dazu auch die Beiträge von Theo Christiansen und Günther Hoermann weiter hinten).
Doch im Konkreten will die Spitze der SPD in Hamburg davon nichts wissen. Allen voran erteilen Parteichef Olaf Scholz und der Fraktionsvorsitzende Andreas Dressel der Volksinitative „Unser Hamburg – Unser Netz“ eine Absage. Gemeinsam mit der CDU und der FDP in der Bürgerschaft und mit der Handelskammer und großen Unternehmen, insbesondere natürlich Vattenfall und E.on führt die SPD-Spitze in den Jahren bis zum Volksentscheid im September 2013 den Kampf gegen die Bürgerinitiative und den Rückkauf der Netze an. Die der SPD-nahestehenden Gewerkschaften sind entweder gespalten (Verdi) oder folgen (IGM).
Erkennbar wird aber auch: Neben vielen Wähler:innen der Linken und der Grünen sind auch viele SPD-Anhänger für die Rekommunalisierung und unterstützen die Ziele des Volksentscheids. Die Daseinsvorsorge und Gemeinwohl muss in öffentlichen Unternehmen erfolgen, dass gilt für viele als ein ur-sozialdemokratischer Grundwert.
SPD gewinnt Bürgerschaftswahlen – Minderheitsbeteiligung statt Übernahme
Daher versuchen es Scholz und Dressel mit einem Schachzug: Statt einer vollständigen Übernahme bringen sie mit Blick auch auf die im Februar 2011 anstehenden Bürgerschaftswahlen eine Minderheitsbeteiligung der Stadt von 25,1 Prozent an den Netzen von Vattenfall und E.on ins Spiel. Gekoppelt wird das mit einer garantierten Gewinnbeteiligung der Stadt. So hätte Hamburg angeblich ausreichend Einflussmöglichkeiten auf die Energiepolitik, behaupten sie. Klar aber ist: Vor allem soll damit der Volksinitiative der Wind aus den Segeln genommen werden.
Die SPD gewinnt mit ihrem Spitzenkandidaten Olaf Scholz im Februar 2011 die Bürgerschaftswahlen, bekommt völlig überraschend sogar die absolute Mehrheit und kann sogar allein regieren. Schnell wird die Minderheitsbeteiligung bei den Netzgesellschaften von Vattenfall und E.on umgesetzt.
Durchmarsch: Initiative gewinnt Volksbegehren
Doch der Plan, der Volksinitiative das Wasser abzugraben, misslingt komplett: Als im Juni 2011 das Volksbegehren startet, ist schnell klar, wie groß die Unterstützung für die vollständige Rekommunalisierung in der Hamburger Bevölkerung ist.
Innerhalb kürzester Zeit und mit doppelt so viel Stimmen wie erforderlich sammelt „Unser Hamburg Unser Netz“ statt der geforderten rund 60.000 Stimmen über 120.000 Unterschriften („Auf der Straße“ – nicht online!) und gewinnt damit auch die zweite Runde auf dem Weg, die Energienetze gegen den Widerstand des Senats komplett in die öffentliche Hand zu übernehmen. (Feststellung des Senats über das Zustandekommen des Volksbegehrens „Unser Hamburg – Unser Netz“ Drucksache 20/1064 )
Doch trotz der großen Unterstützung, die die Forderung nach einer vollständigen Übernahmen der Energienetze durch die Stadt erfährt, gibt es kein Einlenken des Bürgermeisters, des Senats oder der SPD-Spitze. Eine Übernahme der Ziele des Volksbegehrens befürworten nur Linke und Grüne. SPD, CDU und FDP bleiben bei den Beratungen und Anhörungen in der Bürgerschaft stur und rechtfertigen weiterhin, dass Vattenfall und E.on im Geschäft mit den Energienetzen bleiben sollen.
Die Blockade der SPD macht schließlich einen Volksentscheid erforderlich, bei dem alle wahlberechtigten Hamburger:innen zur Wahlurne aufgerufen werden und abstimmen, ob sie für oder gegen die Ziele von „Unser Hamburg – Unser Netz“ sind. Der Termin wird schließlich auf das Datum der kommenden Bundestagswahlen für den 22. September 2013 festgelegt. Damit ist gesichert, dass es eine hohe Wahlbeteiligung auch für den Volksentscheid geben würde.
Mit harten Bandagen und scharfen Kontroversen:
Die politische Kontroverse, der „Wahlkampf“, wird bis zum Volksentscheid immer heftiger. Immer mehr Anträge und Anfragen beschäftigen die Bürgerschaft, die Rechtmäßigkeit der Volksinitiative wird in Zweifel gezogen, die SPD schaltet den Rechnungshof ein und der Druck auf die Initiatoren und ihren Organisationen wird deutlich erhöht.
Drohkulissen werden aufgebaut, Kitas könnten nicht mehr eingerichtet werden, wenn Hamburg für über 2 Mrd. Euro ohne jeden Nutzen Kabel und Rohre kaufen müsste. Die CDU lässt per Schriftlicher Kleiner Anfrage die „politische Betätigung der Verbraucherzentrale Hamburg e.V.“ prüfen.
Hart wird der BUND angegangen, der schon seit Jahren massiv gegen die das Vattenfall-Klimakiller-Kraftwerk in Moorburg immer wieder erfolgreich vorgegangen ist. Der Anwalt und spätere CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Walter Scheuerl hatte die Zulässigkeit der Beteiligung des gemeinnützigen Vereins an der Volksinitiative angezweifelt.
- Walter Scheuerl, z.B. SKA Volksbegehren „UNSER HAMBURG – UNSER NETZ“ (UHUN) – Spendenaufrufe zur Umgehung des Steuerrechts und Verkürzung von Steuern unter den Augen des Senats? Drucksache 20/790
Der Vorwurf: Die Beteiligung am Volksentscheid sei keine gemeinnützige Angelegenheit, sondern eine Sache der Politik. Es kommt zu einer Prüfung durch die Finanzbehörden. Der BUND Hamburg verliert darauf seinen Freistellungsbescheid. Die Spenden an den BUND sind vorerst nicht mehr von der Steuer abzugsfähig. (Erst Jahre später wird vom Bundesfinanzhof bestätigt, dass der BUND alles richtig gemacht hatte und die Beteiligung rechtlich völlig in Ordnung war, siehe Taz, https://taz.de/Engagement-des-BUND-beim-Netzrueckkauf-war-legitim/!5433357/). Finanzsenator ist damals Peter Tschentscher, heute Bürgermeister der Stadt.
Aber auch die Kirche wird von Seiten der politischen Spitzen und aus der Wirtschaft massiv unter Druck gesetzt, um zu erreichen, dass sich die „Diakonie und Bildung des Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreises Hamburg-Ost“ von der Beteiligung und Unterstützung für den Volksentscheid zurückziehen soll. Massiv und medienwirksam wird gefragt, ob die Beteiligung an einem solchen Projekt mit der Rolle der Kirche überhaupt vereinbar sei und dass behauptet. der Einsatz von Kirchensteuer-Geldern für den Volksentscheid wäre unzulässig.
Auch die Hamburger Medien spielen in der Phase während der langen „Wahlkampf-Zeit“ eine Rolle und stellen überwiegende eher gegen die Volksentscheidsinitiativen. Nicht immer wird ausgewogen oder sachgerecht über Vor- und Nachteile einer Rekommunalisierung berichtet. Im Gegenteil übernehmen sie oftmals unreflektiert Behauptungen und Unterstellungen gegen die Absichten des Volksentscheid.
Gegen den Trend sorgt ein „Faktencheck“, wenige Wochen vor dem Volksentscheid in der Welt und im Abendblatt veröffentlicht, dass die immer heftigeren Vorwürfe gegen die VI-Initiatoren etwas eingefangen werden.
Wie wenig inhaltliche Substanz oder gar sachlich korrekte Darstellungen seitens der Gegner der Rekommunalisierung ins Rennen gehen, zeigt sich auch an den Texten von SPD, CDU und FDP in dem Infoheft, welches mit den Wahlunterlagen wenige Woche vor dem Volksentscheid verschickt wird. Eine besondere Information für junge Erstwähler:innen ist sogar derart irreführend, dass die wenige Woche vor dem Entscheid eingestanzt werden muss.
Am Ende steht: Nach einer jahrelangen Debatte stimmt eine Mehrheit der Hamburger:innen am 22. September 2013 für den vollständigen Rückkauf der Energienetze. Vattenfall und E.on sind raus. Bürgerschaft und Senat müssen nun die Netze in die öffentliche Hand übernehmen und eine „sozial gerechte, klimaverträgliche und demokratisch kontrollierte Energieversorgung aus erneuerbaren Energien“ aufbauen.
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