Atomalarm in der Luft: AKWs teilevakuiert – Wäre ein Abschuss möglich gewesen?
(Überarbeitung/Update) Laut Angaben der Augsburger-Zeitung wurden letzten Freitag alle Atomkraftwerke in Deutschland teilevakuiert. Das habe ein RWE-Sprecher der Zeitung bestätigt (siehe dazu gleich weiter unter). Der Grund: Zu einer Maschine vom Typ A300 Boeing 787 auf ihrem Flug über Ungarn, Deutschland und Belgien nach London war der Funkkontakt abgebrochen. Bereits die ungarische und die tschechische Luftwaffe hatten die Maschine offenbar überprüft. Über dem deutschen Hoheitsgebiet übernahmen Eurofighter die Begleitung. Was aber hätte im Ernstfall, also bei einem Terrorangriff, geschehen können? Hätte die Maschine abgeschossen werden können? (Foto: Eurofighter-Eskorte für die britische Königin.Quelle: Luftwaffe/Stefan Petersen.)
Der Spiegel berichtet, dass „umfassende Sicherheitsmaßnahmen“ ergriffen wurden. Betroffen waren in Norddeutschland die Atomkraftwerke Brunsbüttel und Brokdorf in Schleswig-Holstein sowie Grohnde, Lingen und Unterweser in Niedersachsen. Andere Medien erwähnen auch die AKWs Grafenrheinfeld und Biblis, in denen eine Teilräumung ausgelöst wurde. Medienangaben, in denen explizit die AKWs Isar, Gundremmingen, Neckarwestheim, Philippsburg und Obrigheim genannt werden, sind online nicht zu finden. Auch die Angabe, dass möglicherweise alle AKWs in Deutschland teilgeräumt wurden, ist lediglich der oben genannten Augsburger Zeitung zu entnehmen. An allen AKW Standorten gibt es auch Zwischenlager mit hochradioaktivem Atommüll. Unklar bleibt, ob z.B. auch die Zwischenlager in Gorleben oder Ahaus oder die Uranfabriken in Lingen und Gronau von derartigen Maßnahmen betroffen waren.
Der Welt schreibt: „Diesmal handelte es sich um eine Boeing 787 der indischen Fluggesellschaft Air India auf dem Weg nach London, erklärte ein Sprecher der Deutschen Flugsicherung am Freitagabend. Bereits über der Slowakei sei der Funkkontakt zu Flug AIC-171 abgerissen. Angeblich bestand weit über eine Stunde kein Kontakt zu der Maschine mit 231 Passagieren und 18 Besatzungsmitgliedern an Bord.“
Weiter berichtet die Zeitung: „In anderen Quellen ist von 54 Minuten „loss of communication“, also keinem Funkkontakt, die Rede. Ein Sprecher der Luftwaffe erklärte, dass es auch über Ungarn und Tschechien keinen stabilen Funkkontakt zur Flugkontrolle gab. Vor dem Hintergrund der ungewöhnlich langen Dauer des Kontaktverlustes wurde von der Bundespolizei die potentielle Gefährdungslage hochgestuft und ein Voralarm an die Bundesländer und Kernkraftwerksbetreiber ausgelöst. Daraufhin wurden bundesweit zahlreiche Atomkraftwerke vom Süden bis Norden sicherheitshalber geräumt. Dabei verbleibt nach eintrainierten Regeln eine Kernmannschaft in einem Sicherheitsbunker, während die andere Belegschaft evakuiert wird. Allein bei PreussenElektra wurden Hunderte Mitarbeiter in vier Kernkraftwerken evakuiert, bestätigte eine Sprecherin.“
Auch der Spiegel berichtet: „Während des Voralarms blieben nur Notbesetzungen in den Werken. Als der Funkkontakt zu dem Flugzeug wieder hergestellt war, wurde auch die Anordnung zur Räumung aufgehoben.“ Zu ähnliche Maßnahmen, bei denen das Personal der Atommeiler teilweise evakuiert wurden, kam es jüngst auch nach den Anschlägen in Brüssel (März 2016) in belgischen Atomanlagen.
Ziel dieser Maßnahme ist es unter anderem auch, mögliche Innentäter aus den Anlagen zu entfernen.
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Die FR meldet mit Blick auf Maßnahmen an den stillgelegten AKWs in Blibis: „… Voralarm für das Atomkraftwerk (AKW) Biblis ausgelöst. „Es gab vorbereitende Maßnahmen im Kernkraftwerk Biblis“, sagte ein Sprecher des Umweltministeriums am Freitag in Wiesbaden. Der Voralarm – eine Vorstufe von einem möglichen Katastrophenalarm, bei dem bestimmte Vorbereitungen getroffen werden – sei bereits um 11.34 Uhr aufgehoben gewesen. Eine Evakuierung des AKW Biblis, das 2011 als Folge der Atomkatastrophe in Fukushima abgeschaltet wurde, gab es nach Ministeriumsangaben nicht. Mehrere andere Kernkraftwerke in Deutschland wurden vorübergehend geräumt.“
Weiter berichtet die FR zu dem Vorfall: „Betreiber haben Ermessensspielraum: Nach Informationen der Luftwaffe soll es sich um eine Maschine der Air India gehandelt haben, die nach London unterwegs war. Zwei Eurofighter begleiteten sie von der Grenze zu Tschechien bis Köln. Dem Energiewendeministerium Schleswig-Holstein zufolge handelte es sich um einen sogenannten Renegade-Voralarm. In Renegade-Fällen könnte ein Luftfahrzeug aus terroristischen oder anderen Motiven als Waffe möglicherweise verwendet werden. Mit dem Alarm kommt ein Standardverfahren in Gang. Die Betreiber der Atomanlagen haben aber einen Ermessensspielraum, wie konkret sie die Gefahr einschätzen.“
Die Mainpost meldet: „Atomkraftwerk Grafenrheinfeld nach Alarm geräumt – Das AKW lief am Freitag für einige Minuten mit Notbesetzung. Auslöser war ein Verkehrsflugzeug ohne Funkkontakt zum Boden gewesen, das eine Alarmkette auslöste.“ Weiter schreibt das Blatt mit verweis auf einen ähnlichen Vorfall vor einigen Wochen: „Doch dieses Mal wurden vorsichtshalber auch Atomkraftwerke, darunter das in Grafenrheinfeld (Lkr. Schweinfurt) geräumt. Zwei Eurofighter, die als Abfangjäger zusammen eine „Alarmrotte“ bilden, sind am Freitag zur Sicherung des Luftraums binnen 15 Minuten nach einem kurzfristigen Quick-Reaction-Alert (QRA) vom Gefechtsstand in Neuburg an der Donau gestartet. Die Abfangjäger flogen anschließend so nah an das Passagierflugzeug heran, dass die Piloten durch internationale Handzeichen aus dem Cockpit Entwarnung signalisiert bekamen. Die deutsche Alarmrotte habe die Maschine der Fluglinie Indian Air bis Köln begleitet, sagte ein Sprecher der Luftwaffe. Dann habe sie an die belgische QRA übergeben.“ (Auch der BR berichtet.)
Auch das AKW Grafenrheinfeld war betroffen: „So ging am Vormittag ein „zentraler Alarm“ im Atomkraftwerk Grafenrheinfeld (KKG) ein, bestätigt Kraftwerksleiter Reinhold Scheuring: Demnach habe das Personal außer einer Notbesetzung das Kraftwerksgelände verlassen und außerhalb gewartet, bis Entwarnung gegeben wurde. Die hat die Zentrale von Betreiber Preußen Elektra gegen 11.45 Uhr gegeben, sagt dessen Sprecherin Almut Zyweck auf Nachfrage. Kurz nach 10.30 Uhr war die Alarmierung eingegangen. Einen Renegade-Voralarm gibt es laut der Betreibersprecherin mehrmals jährlich.“ Und weiter: „Ob eine Räumung des Kraftwerks notwendig wird, liege dann im Ermessen der Werksleitung, der Behörden vor Ort und der Betreiberleitung. Entscheidend sind Lage und Dauer des Alarms, sagt Preußen Elektra-Sprecherin Zyweck. Bisher sei immer innerhalb kürzester Zeit wieder Entwarnung gekommen, sodass sich die Frage von selbst erledigt hatte. „In meinen 14 Jahren habe ich keine Räumung erlebt.““
Laut unterschiedlichen Medienberichten gibt es Ernstfälle, bei denen Kampfjets aufsteigen häufiger: Der Focus berichtet dazu unter der Überschrift: „Eurofighter schützen deutschen Luftraum: Alarm-Kampfjets über Deutschland: Fast jede Woche kommt es zum Ernstfall“. Dort ist zu lesen: „Sechs Mal zwischen 2013 und in 2015 erschien die Gefahr laut Bundespolizei so schwerwiegend, dass zivile Flugzeuge als sogenannte Renegades eingestuft wurden. Es bestand der Verdacht, dass ein Verkehrsflugzeug als Waffe für einen Angriff zum Beispiel von Terroristen missbraucht wird. In keinem der Fälle bestätigte sich dieser Verdacht.“ Die Welt schreibt hier: „Zahl der Starts deutscher Alarmrotten steigt rasant“. Dort wird mitgeteilt, dass es „2015 insgesamt 18 Alpha-Scrambles gegeben habe. Das sind echte Alarmstarts – also der Ernstfall. Im Jahr zuvor wurden nur zehn Alpha-Scrambles registriert, 2013 waren es sieben.“ Die Welt-Angaben beziehen sich nicht nur auf die Renegade-Vorfälle, die einen Terror-Verdacht unterstellen. Anlässlich des TV-Dramas „Terror – das Urteil“ berichtete die HNA: „So sieht es in der Realität bei Terrorgefahr aus der Luft aus“.
Doch was könnten die Eurofighter im Falle eines terroristischen Angriffs eigentlich tun? Im Jahr 2006 hatte das Bundesverfassungsgericht geurteilt: „Die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ist mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.“
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Im Oktober 2016 berichtete die Tagesschau in einem Gastbeitrag von Klaus Pflieger über dieses Thema. Dort heißt es: „Diese gesetzliche Regelung erklärt das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 15. Februar 2008 in vollem Umfang für verfassungswidrig und damit für nichtig.“ (Wieso sich das Datum unterscheidet, kann ich grad nicht erklären!) Diese Regelung war der § 14 Absatz 3 des Luftsicherheitsgesetzes vom 11. Mai 2005, mit der der Luftwaffe eine solche „Abschussbefugnis“ eingeräumt worden war. Die Tagesschau zieht als Fazit aus dem Bundesverfassungsgerichts-Urteil: „Nach dieser Gerichtsentscheidung sind in unserem Land Flugzeugabschüsse rechtswidrig, wenn sich an Bord der Maschine neben den Terroristen weitere Menschen befinden.“
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Dem Bericht der Tagesschau ist zu entnehmen, dass die Debatte seitdem weiter geführt wurde, wie im Fall der Entführung eines Passagierflugzeuges reagiert werden dürfte. „Inzwischen gibt es neue Überlegungen, ein Gesetz zu schaffen, wie von Terroristen gekaperte Flugzeuge unschädlich gemacht werden können. Danach soll der Verteidigungsminister bei einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr die Befugnis erhalten, Kampfjets der Bundeswehr aufsteigen zu lassen, die ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug abdrängen oder mit Warnschüssen zur Landung zwingen können. Für den Fall, dass sich in dem Flugzeug ausschließlich Terroristen befinden, soll als letztes Mittel der Gefahrenabwehr auch der Abschuss des Flugzeugs möglich sein, wie der „Spiegel“ im April 2014 meldete.“
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Dieser Spiegel-Artikel titelte: „Grundgesetzänderung: Regierung will Abschuss von Terrorflugzeugen erleichtern“ und schrieb: „Was passiert, wenn Terroristen per Flugzeug einen Anschlag ausführen? Die Koalition will den jahrelangen Streitfall nach Informationen von SPIEGEL ONLINE per Grundgesetzänderung regeln. Bei unmittelbarer Gefahr soll der Verteidigungsminister den Befehl zum Einsatz der Luftwaffe im Alleingang geben.“ Siehe außerdem diesen Spiegel-Artikel zu den Reaktionen. Zum Thema siehe auch hier auf Telepolis)
Auf Tagesschau.de heißt es weiter: „Da eine strafrechtliche Ahndung nicht nur ein rechtswidriges, sondern auch ein schuldhaftes Verhalten voraussetzt, wird vor allem Anfang 2016 diskutiert, ob ein solcher Flugzeugabschuss unter dem Aspekt eines „übergesetzlichen Notstands“ entschuldigt sein könnte. Ob ein „übergesetzlicher entschuldigender Notstand“ strafbefreiende Wirkung haben kann, ist umstritten. Die herrschende Meinung in der strafrechtlichen Literatur anerkennt dies bei „einmaligen, nach menschlichem Ermessen nie wiederkehrenden Extremsituationen“, etwa gerade bei einem solchen Flugzeugabschussfall.“
Es ist offenkundig keine einfache Frage, wie denn im Fall einer entführten Passagiermaschine mit dem möglichen Ziel, es in eine Atomanlage zu steuern, verfahren werden soll. Eines aber sollten diese Vorfälle klar machen: Atomkraftwerke angesichts der gewachsenen Terror-Risiken in Betrieb zu belassen, ist nicht zu verantworten und müsste in der Konsequenz zu ihrer Abschaltung führen.
Was die vom Spiegel angesprochenen „umfassenden Sicherheitsmaßnahmen“ neben der Luftwaffen-Begleitung der betroffenen Verkehrsmaschine und die Teilevakuierung weiterhin bedeutet, bleibt indes unklar. Bekannt ist, dass es spätestens seit 2011 neue Lagebeurteilungen über Sicherheitsgefährdungen für Atomanlagen in Deutschland gibt. Seit dem werden Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle mit Baumaßnahmen und Schutzwänden nachgerüstet. Sichtbar an den Atomkraftwerken sind Konstruktionen auf den Dächern rund um die Reaktorkuppel, die vermutlich eine Landung von Hubschraubern verhindern sollen (siehe Foto AKW Brokdorf).
Im August 2015 berichteten die Stuttgarter Nachrichten über einen ähnlichen Vorfall, bei dem der Funkkontakt zu einem Fracht-Flugzeug einer ägyptischen Gesellschaft abgebrochen war und Eurofighter zur Kontrolle alarmiert wurden. Über weitere Maßnahmen wie jetzt bei den AKWs in Norddeutschland berichtete die Zeitung nichts.
Es bleibt die Frage offen, warum ausgerechnet in diesem Fall AKWs evakuiert wurden, obwohl der sogenannte „Renegade-Alarm“ doch angeblich mehrfach im Jahr auftritt. Offenbar haben ja derartige Evakuierungsmaßnahmen in der Vergangenheit noch nicht stattgefunden.
ENTWEDER hat es Anweisung von höchster Stelle gegeben, ab sofort bei Renegade-Alarm immer zu evakuieren ODER es lag in diesem Fall ein schwerwiegender Hinweis auf einen Terroranschlag vor.
Andere Erklärungen fallen mir dazu nicht ein … offenbar hat der Presse auch kein Interesse daran, da mal nachzuhaken.
Das ist eine Schlußfolgerung, von der wir nicht wissen, ob sie stimmt. Es kann ja auch sein, dass wir und die Medien darüber nur nichts erfahren haben. Und woraus du schließt, dass die Presse „offenbar“ kein Interesse hat, ist mir nicht klar. Wenn man nichts weiß, kann man auch nicht fragen. Infofern würde ich mal nicht zu viel spekulieren, sondern schauen, wie man Informationen und konkrete Anhaltspunkte recherchiert bekommt.