Atommüll-Alarm: Wie gefährlich ist das Jülicher AVR-Reaktor-Kippmanöver?

Sonntagsspaziergang Jülich
Atom-Forschungsanlage in Jülich: Haufenweise Probleme mit Atommüll. Foto: Andreas Conradt/publiXviewinG

In Jülich läuft die Verlagerung und das Kippen des 2.100 Tonnen schweren und radioaktiv verseuchten Reaktors des ehemaligen AVR-Atomkraftswerks. Während sich die Behörden und der Betreiber weitgehend in Schweigen hüllen, warnen Bürgerinitiativen und Umweltverbände vor den damit verbundenen Risiken. Für die nur 200 Meter lange Strecke vom alten in das neue Lager wird die Reise des gigantischen Stahl-Beton-Kolosses mehrere Monate dauern. Dr. Rainer Moormann und Jürgen Streich nehmen Stellung zur Frage:

„Wie gefährlich ist das Jülicher AVR-Reaktor-Kippmanöver?

Hintergrund

Vom AVR-Betreiber wird betont, die aktuellen Arbeiten zur Verlagerung des AVR-Behälters seien ungefährlich. Dabei wird u.a. darauf verwiesen, die Dosisrate der Radioaktivität neben dem Behälter sei so gering wie bei einem Fernflug. Letztgenanntes ist zwar richtig, geht aber in verharmlosender Weise am Kern des Problems vorbei: Nicht die Strahlung, die aus dem Behälter dringt, sondern die im Behälter eingeschlossenen radioaktiven Stoffe stellen die Gefahr dar – etwa wie bei einem normalen Gift in einem umschlossenen Behälter.

Da der Reaktor bekanntermaßen faktisch havariert ist, befinden sich noch erhebliche Mengen an besonders gefährlichen radioaktiven Stoffen im Behälter. Konzentrieren wir uns auf das gefährlichste Nuklid, das tückische Strontium-90, haben wir noch mehr als das Millionenfache im Behälter, verglichen mit einem Leichtwasserreaktor zu Beginn des Rückbaus. Konkret werden vom Betreiber 60 Tera-Becquerel (TBq = 1 000 Mrd Bq, radioaktive Kernzerfälle pro Sekunde) Strontium-90 angegeben, die sich im Behälter außerhalb der darin verbliebenen, verklemmten Brennelemente befinden. Dieses Nuklid lag ursprünglich weitgehend als Feinststaub vor, wurde durch die Betonverfüllung 2008 aber großenteils gebunden.

Dennoch stellt der Behälter in seiner jetzigen Form nur einen unzureichenden Schutz dar, keinesfalls vergleichbar dem eines Castor-Behälters. Der doppelwandige Behälter ist nämlich durch Neutronenstrahlung teilweise stark versprödet und damit bruchanfällig. Außerdem ist die Einbindung des Strontiums in Porenleichtbeton nur bedingt wirksam – verglichen etwa mit einer Glaskokille in Castoren, denn dieser Leichtbeton wird bei mechanischen Einwirkungen naturgemäß unter Staubfreisetzung geschädigt. Zur korrekten Einordnung sei aber angemerkt, dass das aktuelle Strontiuminventar im Behälter nur etwa zwei Prozent desjenigen zum Zeitpunkt des AVR-Betriebs beträgt.

Strontium-90 (Halbwertszeit 29 Jahre) ist deshalb so gefährlich, weil es vom menschlichen Körper nicht vom Calcium unterschieden und in die Knochen eingebaut wird, von wo es nicht mehr zu entfernen ist. Es bestrahlt das empfindliche rote Knochenmark, was u.a. zu Leukämie führt. Die zulässigen Freisetzungen sind deshalb außerordentlich niedrig angesetzt.

Was kann bei Störfällen passieren?

Zur Einordnung von möglichen Störfallfolgen gibt es zwei Kriterien: Zum einen die sogenannten Störfallplanungswerte, welche die maximal zulässigen Emissionen bei einem Auslegungsstörfall (früher GaU) definieren, zum anderen die Eingreifrichtwerte für den Katastrophenschutz bei auslegungsüberschreitenden (schweren) Störfällen.

Zur Einhaltung der Störfallplanungswerte liegt uns aus einer Anfrage nach dem Umwelt-Informationsgesetz ein vertrauliches Papier des Forschungszentrums Jülich vom Oktober 2006 vor, in dem berechnet wird, dass diese Störfallplanungswerte am AVR-Zaun bereits dann nicht mehr eingehalten werden können, wenn störfallbedingt nur 0,007 Prozent des Strontiuminventars als Staub aus der Materialschleuse freigesetzt werden. Das deckt sich mit unseren eigenen Berechnungen. Es ist hier anzumerken, dass es sich beim Störfallplanungswert um eine sehr konservativ zu berechnende Größe handelt. Andererseits wird eine Einhaltung dieser Werte für AKW-Störfälle für die Häufigkeit von etwa einmal in 100 000 Jahren gefordert.

Das Erfordernis von Katastrophenschutzmaßnahmen ist weniger eindeutig zu beantworten, da für unterschiedliche Maßnahmen (Anbauverbot für Nahrungsmittel bis Evakuierung) auch unterschiedliche Eingreifrichtwerte gelten, und die Dosiswerte zusätzlich mit der Entfernung abnehmen sowie Wettereinflüsse eine wichtige Rolle spielen. Anbauverbot für Nahrungsmittel im Nahbereich (bis ein Kilometer in Windrichtung) wäre bei Freisetzungen von etwa 0,05 Prozent nötig, Evakuierungen (mit langfristiger Unbewohnbarkeit) dieser Nahzone könnten bei etwa 10 Prozent Freisetzung des Strontiuminventars erforderlich werden. Die nächste Ortschaft (Daubenrath) ist etwa 650 m entfernt.

Hohe Freisetzungen mit katastrophalen Folgen im Nahbereich (Unbewohnbarkeit) wären vermutlich nur als Folge eines größeren Flugzeugabsturzes mit langandauerndem Brand möglich, Freisetzungen mit spürbaren, aber weit weniger drastischen Folgen außerhalb des Zauns allerdings schon bei anderen Störfällen, vor allem solchen, bei denen es keine funktionierende Filterung von Emissionen aus dem Behälter gibt (die bei intakter Materialschleuse, nicht jedoch im Zwischenlager oder beim Transport des Behälters gegeben ist).

Die Störfallanalysen des Betreibers im Rahmen der Genehmigung gehen von recht niedrigen freisetzbaren Mengen an Beton / Graphitstaub aus und zeichnen deshalb ein günstiges Bild. So wird etwa angenommen, dass der Flugzeugabsturz einer Militärmaschine mit Zerstörung des Behälters und Brand weniger als 0,01 Prozent des Inventars in die Umgebung befördert. Hier sind Zweifel angebracht, dass das ungünstigste Störfallszenario ausgewählt und den Genehmigungen zugrunde gelegt wurde, insbesondere das Zwischenlager betreffend.

Fazit

Das radioaktive Inventar des AVR-Reaktorbehälters ist zwar verglichen mit anderen im Rückbau befindlichen Reaktoren außerordentlich hoch, aber wesentlich kleiner als in einem funktionierenden AKW. Allerdings liegt das Inventar in einem vergleichsweise schlecht gesicherten Zustand vor. Störfallszenarien mit katastrophalen Auswirkungen außerhalb der Anlage sind dennoch nur in Verbindung mit Abstürzen von Großflugzeugen anzunehmen, die eine Mobilisierung großer Teile des Inventars zur Folge haben könnten. Diese Auswirkungen erstrecken sich auf verhältnismäßig kleine Bereiche außerhalb der Anlage. Solche Szenarien sind aber nicht auf die aktuellen Verlagerungsarbeiten beschränkt, sondern können auch in dem errichteten Zwischenlager auftreten, da dieses keinerlei Schutz bietet und sogar viele Jahrzehnte betrieben werden soll.

Hier liegt ein entscheidender Schwachpunkt des Rückbaukonzeptes. Die für die Verlagerungsarbeiten charakteristischen Störfälle wie z.B. Absturz des Behälters, (begrenzter) Brand in der Materialschleuse oder Reifenbrand beim Transport lassen demgegenüber keine katastrophalen Folgen außerhalb der Anlage erwarten, da keine Freisetzung großer Teile des Strontiuminventars vorstellbar ist. Allerdings könnten diese Störfälle in einem ungünstigen Fall durchaus zu spürbaren Auswirkungen im Nahbereich um die Anlage führen, sowie zu schwerwiegenden Folgen innerhalb der Anlage und für das Personal.“

Dirk Seifert

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