Die Katastrophe von Tschernobyl: Die Rede Angelika Claußen vor dem AKW Brokdorf
Am 26. April vor 28 Jahren ereignete sich die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Der Reaktor explodierte, eine radioaktive Wolke zog über Europa und verstrahlte ganze Regionen. Bis heute wird aus der Reaktorruine Strahlung freigesetzt. Auf der Protest- und Kulturmeile vor dem AKW Brokdorf sprach aus Anlass der Katastrophe auch Angelika Claußen von der internationalen Ärzteorganisation IPPNW über Tschernobyl und die Folgen. Hier zum Nachlesen:
„Brokdorf, 26.04.2014, Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
Heute vor 28 Jahren, am Samstag, 26.April 1986, 1 Uhr, 23 Minuten, 40 Sekunden. Im Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl explodieren 180.000 Kilogramm hochradioaktives Material aus dem Inneren des Reaktors. Das entspricht der Menge von 1.000 Hiroshima-Bomben. Mindestens 200 verschiedene radioaktive Stoffe werden in die Atmosphäre katapultiert.
In den Morgenstunden darauf: Der Hubschrauber, in dem der Fotojournalist der Novosti- Nachrichtenagentur Igor Kostin sitzt, schwebt über Block 4. Das Dach des Reaktors, die 3000 Tonnen schwere Stahlbetonplatte, ist weggerissen von der Explosion, umgeklappt wie ein Pfannkuchen. Auf dem Grund der Ruine erkennt Kostin damals nur schwach den rötlichen Schein des schmelzenden Reaktorkerns. An seinem Unterarm laufen heiße Schweißtropfen herab. Die Temperaturen sind hoch, dabei kann er nirgends eine Flamme sehen. Er öffnet das Seitenfenster, spannt seinen Fotoapparat und drückt ab. Ein Schwall heißer Luft dringt in die Kabine. Es kratzt sofort in seiner Kehle, er muss sich räuspern und kann kaum schlucken.
Als er das Objektiv in Richtung Boden hält und die ersten Aufnahmen machen will, blockiert die Kamera. Er drückt mit aller Kraft auf den Auslöser, aber Fehlanzeige, der Mechanismus klemmt. Als er, zurück in Kiew, die Fotos entwickelt, sind fast alle Bilder schwarz, so als wäre die Kamera bei hellem Licht geöffnet und der Film belichtet worden. Marie Curie hatte beim Isolieren des Radiums die gleiche Erfahrung gemacht: Strahlung belichtet Filme und fotografische Platten. Nur das erste Bild, das Igor Kostin gemacht hatte, war weniger beschädigt. Es ist das einzige existierende Foto vom Unfall selbst.
Am dritten Tag nach der Katastrophe, am 29.04. meldet die Prawda, das offizielle Organ der sowjetischen Regierung, lapidar: „ Im Kernkraftwerk Tschernobyl ist es zu einem Unfall gekommen. Einer der Reaktoren ist beschädigt…. Es werden Maßnahmen getroffen, eine Regierungskommission ermittelt.“ Die Sowjetunion lehnte damals jegliche Hilfe zur Behebung des Unglücks aus dem Westen ab.
In den ersten Tagen spielten die Piloten in den Militärhubschraubern eine entscheidende Rolle im Kampf gegen das atomare Ungeheuer. Sie warfen Blei und Sand sowie dekontaminierende Flüssigkeiten ab. Sie schafften die Baumaterialien für den Sarkophag heran. 300 Meter über dem Reaktor erreichte die Radioaktivität 1800 Röntgen/Stunde, das sind 18 Gray bzw. 18 Sv /Std., das ist eine Dosis, die innerhalb weniger Wochen zum Tod führt. Die Piloten bekamen mitten im Flug Schwindelanfälle. Um ihre Sandsäcke in den brennenden Schlund des Kraftwerks zu werfen, streckten sie den Kopf aus der Kabine und arbeiteten auf Sicht.
Als die ferngesteuerten Maschinenroboter, die u. a. das Dach von den Graphitblöcken reinigen sollten, „streikten“, also wegen der hohen Radioaktivität nicht funktionierten, wurde eine riesige Armee menschlicher Roboter eingesetzt, die Liquidatoren. Da waren z.B. die sog. „Dachkatzen“, das sind die Liquidatoren, die in 40 Sekunden mit einer Schaufel bewaffnet radioaktiven Schutt in das Loch von Block 4 des Reaktors werfen mussten. Es war ein total aussichtsloser Kampf gegen die Radioaktivität.
Viele Liquidatoren, nach offiziellen Schätzungen 100.000 – 125.000, sind verstorben, ca. 90% der insgesamt 830.000 Liquidatoren sind schwer erkrankt. Sie haben ihr Leben, ihre Gesundheit geopfert. Sehr wahrscheinlich wäre das Ausmaß der radioaktiven Kontamination ohne ihre Arbeit auch bei uns, in West- und Mitteleuropa viel größer gewesen. Wir sind wir ihnen, meine ich, zu tiefstem Dank verpflichtet.
Nur ein halbes Jahr nach der Tschernobylkatastrophe sagte der IAEO Chef Hans Blix in seiner Funktion als Chef der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien: „Die Atomindustrie kann jedes Jahr eine Katastrophe wie die von Tschernobyl verkraften.“ Vor drei Jahren bei einer Fernsehdiskussion anlässlich des Super-GAUs von Fukushima- in Wien, fragte ich Hans Blix, inzwischen Berater bei dem schwedischen Atomkonzern Vattenfall, wie er heute zu der damaligen Aussage stehe: „Er sagte, ich wieder hole meine Einschätzung genauso. Die Atomindustrie kann jedes Jahr eine Katastrophe wie Tschernobyl oder Fukushima verkraften.
Die Internationale Atomenergiebehörde ist nicht die einzige Behörde, die die gesundheitlichen Folgen eines Super-GAUs kleinredet. Auch die deutsche Strahlenschutzkommission (SSK) ignoriert die gesundheitlichen Langzeit-Folgen von Tschernobyl. Bei den Empfehlungen SSK für die Katstrophenschutzplanung im Falle eines Super-GAUs werden nur schwere akute Strahlenschäden, wie die „akute Strahlenkrankheit“ berücksichtigt, also das, was Aufräumarbeiter wie die Liquidatoren von Tschernobyl oder Fukushima erlitten haben, obwohl Langzeitfolgen von Niedrigstrahlung wie Krebserkrankungen, Fehlbildungen, Erbgutschäden, Totgeburten, Herzkreislauferkrankungen und Störungen der Immunabwehr mittlerweile gut erforscht seien.
Infolge dieser kurzsichtigen Logik empfiehlt die Strahlenschutzkommission in ihrer neuesten Publikation vom 24.02.2014 zu „Planungsgebieten für den Notfallschutz in der Umgebung von Kernkraftwerken“ viel zu hohe Eingreifrichtwerte für Evakuierungen und „nimmt damit billigend Zehntausende Opfer in Kauf“.
Während für die Bevölkerung in einem Umkreis von bis zu 20 km eine sofortige Evakuierung vorzusehen ist, muss in angrenzenden Zonen von 20 km bis zu 100 km erst eine radioaktive Belastung von 100 Millisievert (mSv) innerhalb von 7 Tagen erreicht werden, damit die Bevölkerung ein „Anrecht auf Evakuierung“ hat. Zum Vergleich: In Fukushima lag die Grenze für Evakuierungen bereits bei 20 mSv, in Tschernobyl wurde sogar schon bei einem Eingreifrichtwert von 10 mSv evakuiert und bei 5 mSv bestand ein Anrecht auf dauerhafte Umsiedelung.
Wenn man zudem berücksichtigt, dass es nach Tschernobyl über 11 Tage anhaltende radioaktive Ausstöße gab und die Dauer der radioaktiven Ausstöße in Fukushima 25 Tage betrug, so wird sich jeder Laie fragen, was die SSK denn so sicher macht, dass der radioaktive Ausstoß nach einer Atomkatastrophe schon 50 Stunden vorbei ist.
Woran liegt es, dass die Mitglieder der Strahlenschutzkommission immer noch nichts gelernt haben oder nichts lernen wollen– weder aus Tschernobyl noch von Fukushima? Vielleicht daran, dass drei Mitglieder des elf-köpfigen Gremiums Leiter von Atomkraftwerken bei RWE, EON und Vattenfall sind bzw. waren und diese drei bestimmen, wieviel Risiko die Bevölkerung auf sich nehmen muss?
Wir, die Antiatombewegung fordern von der Bundesregierung: „Ein neues Tschernobyl muss auf alle verhindert werden. Wer die Bevölkerung nicht schützen kann, der muss alle laufenden Atomkraftwerke in Deutschland umgehend abschalten und stilllegen.“
AKW Brokdorf – das Ding muss weg, damit wir Menschen bleiben können.“
Dr. Angelika Claußen, IPPNW